@off-peak,
So wie Du sehe ich das im Grossen und Ganzen auch.
@Siegfrieden,
Ich würde nicht sagen, dass sich bei uns die Ansicht zur Gewissheit wird, dass Kaspar auch ein Opfer war. Letztendlich können wir nämlich nicht wissen, was in seinem Kopf wirklich vorging. Aber jemand, der in so jungen Jahren stirbt - vermutlich, weil er, um Aufmerksamkeit zu erregen, einen Anschlag gegen sich vortäuschen möchte, den sehe ich allein schon aufgrund des tödlichen Ausgangs auch als Opfer. Man kann argumentieren, dass er vor allem ein Opfer seiner selbst geworden ist. Ich glaube aber, das ist vermutlich zu einfach. Denn Kaspar wurde schon als Teenie ein Spielball der damaligen Interessen und Obsessionen. Ohne die bereitwillige Mitwirkung seiner Umwelt wäre es mit den Täuschungsmanövern nie so weit gekommen. Und man kann wohl aufgrund von Kaspars ursprünglich protokollierten Aussagen, die dann offenbar vergessen oder ignoriert wurden, ausschliessen, dass er von Anfang an plante, eine Medienstar und das 'Kind Europas" zu werden - ein "It-Boy", wie man heute sagen würde. Vielleicht wollte er ursprünglich nur durch ein paar Flunkereien, von denen wir nicht wissen, wie weit die Unwahrheiten anfänglich gingen, ein Reiter werden. Und er lebte in einer Gesellschaft, in der es sehr schwer war, sich aus eigener Kraft von ganz unten hoch zu arbeiten. Wenn es dabei geblieben wäre und Kaspar "ein Reiter, wie sein Vater" geworden wäre, könnte man ihm vielleicht sogar auf die Schulter klopfen und sagen "pfiffig, mein Junge!" Einen geschickten Hochstapler wie zB. die Romanfigur Felix Krull lieben wir ja. Dann hat für Kaspar die Sache aber eine Eigendynamik entwickelt, die er wirklich nicht vorhersehen konnte, und er musste zusehen, in diesem Ereignisstrudel den Kopf über Wasser zu halten. Und er hat wohl gemerkt, dass es zumindest für seine materielle Versorgung vorteilhaft war, wenn er die Phantasien seiner Umgebung bediente und er hat wohl mehr oder weniger geschickt versucht, den Erwartungen zu entsprechen. Was dann mit ihm passierte, war aber zum grössten Teil nicht von ihm selbst bestimmt. Er konnte sich seine diversen Pflegestellen und Vormundschaften ja nicht selbst aussuchen. Und viele dieser Menschen hatten ihre eigenen Ziele und Vorteile im Auge - selbst der so altruistische Daumer hat Kaspar auch als Vesuchskaninchen für seine verschrobenen Experimente benutzt. Kaspar hat wohl hauptsächlich auf seine Umwelt reagiert und nicht so sehr agiert. Und irgendwann war es ihm wohl nicht mehr möglich, aus dieser Scheinwelt, die er letztlich nur unter grosser Mithilfe seiner Umgebung errichten konnte, auszubrechen. Inwieweit er anfing, selbst an eine adlige Herkunft zu glauben, können wir nicht mehr klären.
Ich gebe Dir recht, Siegfrieden, dass es nun wirklich wesentlich tragischere Schicksale gibt als der kurze Lebensweg des Kaspar Hauser. Und vielleicht war er ja wirklich einfach nur arbeitsscheu. Sein ursprünglicher Wunsch, ein Reiter zu werden, belegt das aber nicht, denn das Soldatenleben ist durchaus mit nicht immer sehr angenehmer Arbeit und vor allem auch mit Kriegen verbunden, obwohl es den Mitgliedern der leichten Kavallerie wohl besser als den einfachen Fusssoldaten erging.
Letztendlich hat Kaspar in materieller Hinsicht keiner Einzelperson einen grossen Schaden zugefügt. Die Stadtkasse von Nürnberg wurde anfänglich etwas belastet. Aber für einen Grossteil seines kurzen öffentlichen Lebens wurde Kaspars Unterhalt ja vom Earl of Stanhope bezahlt, der es sich wirklich leisten konnte und der Kaspar wohl vor allem als Kuriosum in seiner Menagerie angesehen hat. Man konnte sich ja durchaus mit Kaspar schmücken. Und etliche der damaligen Erbprinztheoretiker hatten, wie Du so schön belegt hast, das Spinnen ihres eigenen Netzes von Intrigen im Sinn.
Aber letztendlich sind alle diese Überlegungen meine subjektiven Spekulationen. Es gibt nur wenige Dinge, von denen ich denke, dass sie höchstwarscheinlich zutreffend sind: Ich bin mir ganz sicher, dass Kaspar nicht bei Wasser und Brot für den größten Teil seinens Lebens isoliert wurde. Ein verkappter Erbprinz war er vermutlich auch nicht. Und er ist wohl nicht einem Attentat zum Opfer gefallen, sondern er ist an den unbeabsichtigten Folgen einer Selbstverletzung gestorben.
Kaspar hat das zwar nicht beabsichtigt, aber er hat eine sehr produktive Industrie hervorgebracht, die immer noch sehr viele Menschen beschäftigt 😉 Das ist wohl auch der Grund, warum die Erbprinztheorie immer noch so populär ist. Denn man wird ja viel mehr wahrgenommen, wenn man sich mit dem Schicksal eines totgeglaubten jungen badischen Prinzen beschäftigt, als wenn man Abhandlungen über den unehelichen Sohn einer Dienstmagd und eines unbekannten Vaters verfasst - auch, wenn der vielleicht sogar wirklich einem Reiterregiment angehörte!