Pseudologie - Wenn Menschen krankhaft lügen müssen
05.05.2011 um 15:50
Mein Pflegebruder ist ein zwanghafter Lügner.
Er kam im Alter von kurz vor 7 in unsere Familie, hat eine Vorgeschichte von Mißhandlung und Verwahrlosung in der Ursprungsfamilie, ca. 1/2 Jahr Heim, IQ am Rande zur Debilität.
Früher hat er auch geklaut wie ein Rabe und Essen gehortet, das hat sich zum Glück gegeben.
Er ist jetzt Mitte dreißig, und bis vor knapp einem Jahr hat das Amt meinen Eltern noch so eine Art Vormundschaft über ihn zugestanden, so daß sie sein Konto verwalteten und alle seine Unterschriften notfalls hätten für ungültig erklären können. Seine Post wurde auch zu ihnen umgeleitet. Ist jetzt vorbei, er soll jetzt die Verantwortung für sich selbst übernehmen, und das ist absolut fatal für einen Menschen, der sich sogar vor sich selbst die Welt schönlügt. Es war immer schwer, ihm irgendwie zu helfen, wenn er in Schwierigkeiten war, denn er hat ja nie bescheid gesagt, und alles abgestritten, sogar, wenn Beweise schon vor ihm lagen.
Und ja, Geschichten hat er sich auch immer ausgedacht.
Er kam ganz stolz nach Hause und erzählte, er habe mit seinen Freunden um Fußballergebnisse gewettet, und er als einziger habe richtig getippt und den Jackpot von sowas wie 50 DM gewonnen. Meine Mutter gratulierte ihm dazu - sie glaubte ihm - und fragte ihn, ob er denn das Geld auch schon bekommen habe. Nein, das würde ein Freund verwalten, der beim letzten Treffen nicht dabei, war, er würde es aber demnächst erhalten. Meine Mutter war mit der Mutter jenes Freundes bekannt, und nachdem mein Pflegebruder das Geld schon 2 Monate nicht bekommen hatte, fragte meine Mutter bei jener Frau mal nach. Dabei kam heraus, daß es überhaupt keine Wette gegeben hatte...
Er hat mal ein Praktikum in einem Klärwerk gemacht, und wenn man ihm Glauben schenkt, hat er sich dort mindestens das Bundesverdienstkreuz verdient, denn ohne ihn würde Berlin jetzt bis zur Traufe in der Scheiße stecken.
Als junger Jugendlicher hat er sich per Schreibmaschine einen "Dienstausweis" vom Bundesgrenzschutz gemacht, der lag dann dauernd irgendwo offen rum, aber das war für uns noch eher witzig.
Eines Tages kam er mit 200 DM nach Hause, und die 2 schönen neuen Scheine hatte er angeblich irgendwo gefunden. Er zeigte meinem Vater sogar das Gebüsch, wo die angeblich in den Zweigen gehangen hatten. Na ja, wie sich herausstellte, hatte er in Wirklichkeit heimlich ein Konto eröffnet und den Überziehungskredit genutzt...
Ausbildung im Gartencenter: mindestens einmal pro Woche erzählte er, ein anderer Mitarbeiter habe mal wieder den Gabelstapler im Teich versenkt.
Diese Aufzählung ließe sich beliebig lang fortsetzen, und er setzt sie in der Tat immer noch fort, aber da wir irgendwann dahinter gekommen sind, daß er offenbar einfach nicht anders kann als zu lügen, gehen wir damit inzwischen lockerer um. Es nervt halt manchmal.
Demnächst will er anfangen, seine Vergangenheit, die frühe Kindheit, bei einer Psychiaterin aufzuarbeiten. Ich hab ihm geraten, eine zu wählen, die mit Hypnose arbeitet, da das die einzige Möglichkeit wäre, daß er nicht lügen kann. Tja, darauf hat er nicht gehört, und so wird er wahrscheinlich eine Lebensgeschichte "aufarbeiten", für die die Frau Doktor dann die Rechte an Hollywood verkaufen kann...
Edit: Ach, hab ich vergessen zu erwähnen: es liegt bei ihm in der Familie, er hat eine Tante oder so, von der wir das auch erfahren haben, um die Ecke rum.