Lügenkonstrukte
14.09.2022 um 22:00DalaiLotta schrieb:Das pseudo-philosophische Problem dabei ist, dass eine Wahrheit nie so 100%ig "wahr" sein kann wie eine Lüge 100%ig falsch.Ein Beispiel:
(Was man sich selten vergegenwärtigt - lügt man sich dadurch an?)
Als mir meine Mutter erzählte, ich sei eine unbefleckte Empfängnis, war für mich klar, dass es auch keinen Vater in meinem Leben gab. Den gibt es auch nicht, versicherte sie mir.
(das ist eine vererbte Lüge, der Lügner pflanzt eine falsche Information in meinen Speicher und ich gebe die Informationseinheit als für mich geltende Wahrheit weiter.) Diese Information gilt für mich als wahr.
Als ich eines Tages gefragt wurde, wie mein Vater heißt, antwortete ich wahrheitsgemäß, das ich keinen hätte, da unbefleckte Empfängnis.
Der Lehrer war, zu meinem Erstaunen, etwas ungehalten und knallte mir eine.
Willst du mich verarschen, mir hier Lügenmärchen aufzutischen?
Ich blieb bei meiner Meinung, da ich nichts anderes kannte. Der Lehrer wollte mir nicht glauben.
Als ich älter wurde, erzählte mir meine Mutter, das es doch einen Vater gab, es war der Weihnachtsmann. Weil dieser nur einmal im Jahr seine viel beschäftigte Runde machte, konnte er uns bisher nicht besuchen.
So ähnlich fängt für den einen ein Lügenkonstrukt an und der andere wird unwissentlich zum Teil der Konstruktion gemacht.
Aber zum Lügenkonstrukt und dessen Zustandekommen im Allgemeinen, möchte ich sagen, ich habe viel mit Menschen zu tun und Lügen gehören leider oft zum Alltag. Die Gründe sind unterschiedlicher Art, meist müsste man gar nicht lügen, aber um sich nicht bloß zu stellen oder um sich zu schützen fängt man an ins Anglerlatein abzudriften.
Eigentlich muss mich niemand anlügen. Dennoch gibt es immer Leute die das tun und dabei in dem Glauben sind, ich würde es nicht merken. Doch ein paar Kontrollsätze und sie sind entlarvt.
Dabei muss ich sagen, bei einem komplexen Lügenkonstrukt ist meist der Lügner das erste Opfer. Er muss viel Aufwand betreiben um sein Gebäude instand zu halten. Mir persönlich ist das völlig egal. In den meisten Fällen weiß ich um die Lügen, lass aber meinem Gegenüber freien Lauf, da ich dabei alles und noch viel mehr von ihm erfahre und so die Situation unter Kontrolle habe.
Auch Lügen haben einen bestimmten Wahrheitsgehalt, wenn man versteht sie richtig zu deuten und sein Gegenüber richtig einschätzen kann.
Eine andere Geschichte ist, dass sich viele Menschen selbst verleugnen, weil sie manche Wahrheit nicht ertragen. Das ist natürlich nur ein Teilaspekt.
Sie verteidigen meist ihre Lebenslüge mit Hieben und Klauen, um nicht mit der Wahrheit ihrer eigentlichen Existenz konfrontiert zu werden. Das würde ihr gesamtes Lebenskonstrukt zerstören.
So erschaffen wir mit einem Teil Lügen und etwas Wahrheit eine kleine Realität in der es sich meist ganz passabel leben lässt.
Von P. Watzlawick gab es mal eine interessante Geschichte, wie wir uns die Realität zurecht zimmern. Die ging so ähnlich.
Ein Mann benötigt einen Hammer. Er sucht im ganzen Haus, kann aber keinen finden. Da fällt ihm ein, sein Nachbar, war gestern auf der Veranda und hat einen Nagel in die Wand geschlagen. Der hat also einen Hammer. Er überlegt kurz und ist schon bei der Tür, da fällt ihm ein, dass ihn der Nachbar neulich angeschnauzt hatte, weil er sein Auto vor dessen Garage geparkt hatte. Soll er jetzt rüber gehen und trotzdem fragen?
Er überlegt: was, wenn der Nachbar ihn nochmal anschnauzt? Er zögert, was wenn der Nachbar ihm den Hammer gar nicht leihen will? Was wenn der Nachbar ihn auslacht, weil er keinen Hammer besitzt? So überlegt er hin und her , bis er wutentbrannt über die Straße zum Haus seines Nachbarn stürmt und klingelt. Als dieser öffnet, schleudert er ihm eine Schimpftirade entgegen … und deinen scheiß Hammer kannst du behalten, du Arschloch.
So entsteht ein Stück gedachte Wirklichkeit. Wie viel Wahrheitsgehalt besitzt diese Wirklichkeit?
Der Typ der aus dem Haus ging und einen Job vortäuscht, hat ja noch nicht die Unwahrheit erzählt. Erst wenn das, was er tut und das, was er erzählt nicht übereinstimmt, ist es eine Lüge.
Jedoch, je näher die realen Ereignisse an die eigene Substanz/Existenz gehen, um so überzeugter wird an einem Lügenkonstrukt gebastelt.
Aus Angst entsteht ein Lügenkonstrukt. Die Schuldfrage erzeugt Angst.
Wer hat das falsch gemacht? Alle schauen sich an, keiner war es. Das Unglück ist geschehen.
Anstatt zu sagen, Mist, da ist was schiefgelaufen, wie bringen wir das wieder in Ordnung, kommt sofort die Keule. WER WAR DAS???? Deutsch für Runaways. Alle ducken sich weg.
So entsteht aus Angst ein Haufen Lügen. Man lügt sich in die eigene Tasche.
Ich erinnere mich an eine Zeit, da saßen wir , die Projektleiter, krawattiert, in Anzüge verpackt, wichtig in der Runde. Der da vorne an der Flipchart fragte, wie das Quartal gelaufen ist. Keiner hatte die richtigen Zahlen auf dem Tisch. Wie wird das kommende Quartal laufen? Obwohl die meisten wusste, das Quartal wird scheiße, habe alle hoffnungsvoll in die Zukunft gelogen und die Zahlen entsprechend hingebogen.
Oder glaubt wirklich einer, Stuttgart 21 würde wie ursprünglich veranschlagt 4,5 Milliarden kosten, oder der Berliner Flughafen, oder die Hamburger Philharmonie, oder oder oder?
Im Großen wie im Kleinen wird halt gelogen, damit die Realität ein bisschen erträglicher wird.
Weil wir eigentlich bei Lichte besehen, meist in einer Blase aus teilweise Gelogenem, und ein bisschen Wahrheit irgendwo einen Weg durch die Wirren des Lebens finden müssen.