@Cherymoya Wer nicht den Tag damit verbringen muss, aufzupassen, dass sie/er nicht erschossen oder plattgebombt wird, bzw. damit beschäftigt ist, etwas zu Essen zu finden, hat natürlich Zeit für "Zweitrangiges", das mag schon zutreffend sein.
In einer Diskussion zum Thema "Befindlichkeiten" schrieb ich mal:
"Gerade vorhin las ich dass noch nie so viele Menschen in Deutschland so Hoffnungslos waren wie jetzt und so viele Psychologen benötigten wie zur Zeit! Ja.. dass schon in Kindergartenalter jeder 3. Kind Verhaltensgestört und 1/4 alle Jugendliche sehen ihr Leben Sinn und Ziellos an." (Zitat aus einem Beitrag eines anderen Diskussionsteilnehmers)
Nun ja, wenn es eine Schuster-Schwemme gibt, wird man aus allen Medien erfahren, dass die Deutschen so schlechte Schuhe hätten wie nie zuvor, und so viele Schuster benötigten wie nie zuvor. Schon im Kindergartenalter hätte jedes 3. Kind falsche Schuhe an, und ein Viertel aller Jugendlichen würde schuh- und orientierungslos umherirren, mit von Frostbeulen übersäten Füssen.
Und wer hilft?
Der Schuster!
Selbst, wenn er keine Schuhe reparieren könnte, weil das zu zeitaufwändig wäre, so hätte er bestimmt einen geilen Schnüffel-Kleber in der Tasche, rezeptpflichtig, versteht sich, nach dessen Konsum die Welt auch schuhlos funktioniert, weil man eh schwebend sich fortbewegte.
Wenn es Produkte gibt, wie Psychotherapie oder Psychoparmaka, dann braucht es auch einen zahlungskräftigen Absatzmarkt.
Dies wäre der klassisch kapitalistisch/marxistische Erklärungsansatz.
Nun kann es natürlich auch sein, dass der moderne Mensch, der Mittelschichtler ohnehin, mangels echter, lebensbedrohlicher Probleme, jede Menge Zeit und Bildung hat, sich sein Leben mit etwas Hypochondria Simulatrix zu versüssen. Wenn man nur lange genug in sich hinein sieht, wird man schon ein seelisches Zipperlein finden. Da wird gelegentliche Bequemlichkeit zur manifesten Depression, Müdigkeit zum Burn-Out-Syndrom und Unausgeglichenheit hat mindestens Borderline-Qualität. Da sitzt dann die Mittelschicht-Mutti mittleren Alters, mittlerer Bildung, mittleren Einkommens unlustig im Mittelreihenhaus, vor dem ein Mittelklassewagen parkt und denkt sich: Wie soll ich mal etwas Farbe in mein Leben bringen? Feng-Shui-Kurs an der VHS? Neue Tapeten? Oder so'ne richtig schöne gepflegte Psychokrise. Ach, was werden meine Freundinnen neidisch sein. Selbst das Mitleid meines Gatte ist mir gewiss. Ausserdem gibt's neben dem netten Therapeuten noch ein breites Angebot leckerer Psychopharmaka und gleich hat die Welt wieder einen rosigen Glanz.
Die achtfache Mutter aus dem abgehängten Prekariat hat für derlei Gedanken keine Sekunde Zeit, muss sie doch nach ihrem Putzjob ihre nervigen Gören abfüttern und, soweit noch vorhanden, Männes Bier holen und seine Kotze aufwischen. Sie hätte weder die Zeit noch das Geld für eine Selbstanalyse oder eine Therapie.
Die Upperclass hingegen pflegt ihre Macken wie ihre Rennpferde und würde niemals ein Wort über eventuelle psychische Unpässlichkeiten verlieren. Darüber spricht man so wenig wie über Geld. Beides hat man und gut ist!
Dies wäre der sarkastisch-philosophische Ansatz.
Ich tendiere zu einer Mischung aus beiden.
Menschen, die täglich um ihr Leben kämpfen müssen, haben keine Zeit und kein Geld, um zum Therapeuten zu rennen. Denen würde auch niemand Hoffnungslosigkeit attestieren wollen, obwohl SIE allen Grund dazu hätten.
So ungerecht sind die Güter der Welt nun mal verteilt:
Die einen haben Schnupfen, die anderen Nasivin!