Idiosynkrasia schrieb am 01.11.2021: Heute denke ich, es war vielleicht sogar ganz gut, dass ich nicht in einer allzu heilen Blumenwelt aufgewachsen bin. Man nimmt einiges an Erfahrung und Einblicken mit, die Menschen innerhalb einer gesunden Familiendynamik verwehrt bleiben. Für mich sind diese Erfahrungen und Einblicke irgendwo auch nützlich (geworden).
Ich denke, jede Konstellation hat ihre eigenen Vor- und Nachteile.
Ich habe ein Jahrzehnt weit unterhalb der Armutsgrenze gelebt, meine Ausbildun, mein Abi und mein Studium selbst verdient - und extreme Armut kostet u.a. Zeit. Wenn es das Buch, was du brauchst, nur in der 8km entfernten Bibliothek gibt, dein Fahrrad geklaut ist und das S-Bahnticket teuer, dann läufst du mindestens einen Weg ... und wenn du dann 8km nach Hause läufst, dann kommen dir schon sehr bittere Gedanken. Zumal meine Eltern in einer finanziellen Lage waren, dass ich gar nicht in diese Lage hinein geraten hätte müssen ... Armut macht auch einsam. Armut bringt dich dazu, vor Scham zu lügen. Armut setzt dich wahnsinnig unter Stress, wenn du Angst hast, dass das wenige Geld, was du hast, nicht mehr reicht. Armut bringt dich dazu, extreme Dinge zu tun und extrem an dir selbst zu sparen. Heute genieße ich es, dass ich Geld habe. Ich musste an meinem mindset arbeiten, dass ich es schaffte, es für mich selbst auszugeben. Ich bin unendlich dankbar. Vermutlich dankbarer als jemand, der nicht so gelebt hat.
Ich bin heute auch sehr dankbar, dass ich -mit viel emotionaler Distanz zu meiner Herkunftsfamilie- die Fehler und Muster bei meinen Kindern nicht wiederholt habe (aber andere Fehler gemacht habe). Als meine Tochter ausgezogen ist, war es für uns als Familie selbstverständlich, dass wir alle hinfahren, mit ihr Möbel aufbauen, ihr helfen, alles einzuräumen, die Kartons mitnehmen, das kaufen, was noch fehlt, den Kühlschrank füllen und mit ihr die drei beliebtesten Kneipen testen, die von ihr aus gut zu erreichen sind :-). Für meine Tochter ist das selbstverständlich, Teil dieses (intakten) Familiengefüges zu sein - sie ist dafür nicht dankbar, das ist für sie völlig normal. Auch, dass wir täglich Kontakt haben, versuchen, Probleme mit ihr zu lösen, ihr Mut zusprechen, ihr bestmöglist helfen, im Studileben anzukommen. Solche Umzüge habe ich früher mit der Straßenbahn erledigt - oder mir haben Leute geholfen, die gar nicht "für mich zuständig waren", z.B. der Vater meiner Mitbewohnerin hat mich einfach mit in den Möbelladen genommen.
Meine eigenen Gefühlsausschläge sind da intensiver als die meiner Tochter. Meine Mutter hat mich in dem Jahrzehnt genau 0 mal besucht. Sie kannte keinen einzigen meiner Wohnorte, weder bei der Ausbildung, noch beim Abi, noch beim Studium ... nichts. Ich bin nicht zum Abiball, weil ich die einzige ohne Eltern gewesen wäre. Gleiches für den Uniabschluss. Heute bin ich da reflektierter, damals hat sich oft mein Selbstbewusstsein gemeldet und ich dachte "ich bin es nicht wert" - das ist ein total hässliches Gefühl. Der Weg, den ich zurückgelegt habe, ist länger, ich weiß heute mein Glück mehr zu schätzen, weiß aber auch, dass es zerbrechlich ist. Ich weiß nicht, ob ich für diese Erfahrung heute dankbar sein soll. Ich bin heute "bei mir selbst" angekommen, meinen Eltern gegenüber neutral. Aber ich kann mich an viele hässliche Momente erinnern, verletzende Momente, verdammt einsame Momente, Probleme, die sich nur ergeben haben, weil meine Eltern versucht haben, mich über fehlendes Geld zu erpressen ... Und viele Momente, die aus der Retrospektive einfach sinnlos waren - hätten meine Eltern einfach an mich geglaubt, mich unterstützt, mir ein wenig Geld überwiesen (ich hätte gar nicht viel gebraucht), dann wäre mir sehr viel erspart geblieben. Hätten sie sich interessiert, dann wären mir einige emotionale Tiefen erspart geblieben.
Ich bin heute auch mir selbst sehr dankbar - dass ich so nicht mehr leben muss. Dass es mir total egal ist, was meine Eltern denken, tun, fühlen, wie sie meine Handlung bewerten. Ich bin mir dankbar, dass ich an meine Vision "ich werde dieses verdammte Abi machen, ein Studium abschließen und ein ganz normales Leben führen" geglaubt habe und dass ich durchgehalten habe - auch in den echt schwierigen Momenten. Es gab aber auch kleine Momente, die mich total verletzt haben - und diese Narben bleiben einfach. Vieles war so schwierig und viele Chancen haben ich einfach verpasst ... z.B. zum Austausch mit einer Partneruni - ich wäre so gerne gefahren und hatte kein Geld. Ich würde gerne manchmal einfach zurückreisen, in die Zeit der Ungewissheit und würde meinem Ich sagen, das so voller Selbstzweifel ist "es wird alles gut werden". Und "du bist okay, du bist auf dem richtigen Weg und es wird alles gut". Von daher ja, ich habe sehr viele Erfahrungen gemacht, die mich haben extrem reifen lassen. Ich arbeite an einer Brennpunktschule und finde viel Zugang zu Schülern mit Problemen - weil ich "eben auch mal einer war". Ich kann mich da reinversetzen, was es heißt, am 27 kein Essen mehr im Haus zu haben. Von daher kann ich viele der Erfahrungen konstruktiv darauf verwenden, für andere eine Lösung zu finden - was mich wieder mit mir versöhnt - es war nicht umsonst.