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Was ist gerecht?

387 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Philosophie, Glück, Gerechtigkeit ▪ Abonnieren: Feed E-Mail

Was ist gerecht?

20.05.2017 um 16:34
Vor gut zwei Wochen gab es einen interessanten Artikel im Standard zur Wertedebatte, Rechtsstaat und Demokratie:

http://derstandard.at/2000057080004/Rechtsphilosoph-Stadler-Wertedebatte-ist-Ausdruck-einer-Verunsicherung

Auslöser des Interviews war die "Leitkultur"-Debatte des deutsche Innenminister Thomas de Maizière.

http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-04/thomas-demaiziere-innenminister-leitkultur

Auf dessen 10 vorgebrachte Aspekte der Leitkultur antwortete Habermas:

http://www.rp-online.de/politik/deutschland/leitkultur-das-sagt-juergen-habermas-zur-debatte-aid-1.6793232

Diese drei Zeitungsartikel bilden eine nette Diskussionsgrundlage zum Thema mit dem wir uns in diesem Thread beschäftigen:

Brauche ich einen Wertekatalog? Was ist gerecht? Wie sinnvoll ist ein Wertekatalog?


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Was ist gerecht?

20.05.2017 um 16:37
Die zehn Punkte der Leitkultur von de Maizière aus dem Zeit-Artikel:
1.  Wir legen Wert auf ei­ni­ge so­zia­le Ge­wohn­hei­ten, nicht weil sie In­halt, son­dern weil sie Aus­druck einer be­stimm­ten Hal­tung sind: Wir sagen un­se­ren Namen. Wir geben uns zur Be­grü­ßung die Hand. Bei De­mons­tra­tio­nen haben wir ein Ver­mum­mungs­ver­bot. "Ge­sicht zei­gen" – das ist Aus­druck un­se­res de­mo­kra­ti­schen Mit­ein­an­ders. Im All­tag ist es für uns von Be­deu­tung, ob wir bei un­se­ren Ge­sprächs­part­nern in ein freund­li­ches oder ein trau­ri­ges Ge­sicht bli­cken. Wir sind eine of­fe­ne Ge­sell­schaft. Wir zei­gen unser Ge­sicht. Wir sind nicht Burka.

2. Wir sehen Bil­dung und Er­zie­hung als Wert und nicht al­lein als In­stru­ment. Schü­ler ler­nen – manch­mal zu ihrem Un­ver­ständ­nis – auch das, was sie im spä­te­ren Be­rufs­le­ben wenig brau­chen. Ei­ni­ge for­dern daher, Schu­le solle stär­ker auf spä­te­re Be­ru­fe vor­be­rei­ten. Das ent­spricht aber nicht un­se­rem Ver­ständ­nis von Bil­dung. All­ge­mein­bil­dung hat einen Wert für sich. Die­ses Be­wusst­sein prägt unser Land.

3. Wir sehen Leis­tung als etwas an, auf das jeder Ein­zel­ne stolz sein kann. Über­all: im Sport, in der Ge­sell­schaft, in der Wis­sen­schaft, in der Po­li­tik oder in der Wirt­schaft. Wir for­dern Leis­tung. Leis­tung und Qua­li­tät brin­gen Wohl­stand. Der Leis­tungs­ge­dan­ke hat unser Land stark ge­macht. Wir leis­ten auch Hilfe, haben so­zia­le Si­che­rungs­sys­te­me und bie­ten Men­schen, die Hilfe brau­chen, die Hilfe der Ge­sell­schaft an. Als Land wol­len wir uns das leis­ten und als Land kön­nen wir uns das leis­ten. Auch auf diese Leis­tung sind wir stolz.

4. Wir sind Erben un­se­rer Ge­schich­te mit all ihren Höhen und Tie­fen. Un­se­re Ver­gan­gen­heit prägt un­se­re Ge­gen­wart und un­se­re Kul­tur. Wir sind Erben un­se­rer deut­schen Ge­schich­te. Für uns ist sie ein Rin­gen um die Deut­sche Ein­heit in Frei­heit und Frie­den mit un­se­ren Nach­barn, das Zu­sam­men­wach­sen der Län­der zu einem fö­de­ra­len Staat, das Rin­gen um Frei­heit und das Be­kennt­nis zu den tiefs­ten Tie­fen un­se­rer Ge­schich­te. Dazu ge­hört auch ein be­son­de­res Ver­hält­nis zum Exis­tenz­recht Is­raels.

5. Wir sind Kul­tur­na­ti­on. Kaum ein Land ist so ge­prägt von Kul­tur und Phi­lo­so­phie wie Deutsch­land. Deutsch­land hat gro­ßen Ein­fluss auf die kul­tu­rel­le Ent­wick­lung der gan­zen Welt ge­nom­men. Bach und Goe­the "ge­hö­ren" der gan­zen Welt und waren Deut­sche. Wir haben unser ei­ge­nes Ver­ständ­nis vom Stel­len­wert der Kul­tur in un­se­rer Ge­sell­schaft. Es ist selbst­ver­ständ­lich, dass bei einem po­li­ti­schen Fest­akt oder bei einem Schul­ju­bi­lä­um Musik ge­spielt wird. Bei der Er­öff­nung eines gro­ßen Kon­zert­hau­ses sind – wie selbst­ver­ständ­lich – Bun­des­prä­si­dent, Ver­tre­ter aus Re­gie­rung, Par­la­ment, Recht­spre­chung und Ge­sell­schaft vor Ort. Kaum ein Land hat zudem so viele Thea­ter pro Ein­woh­ner wie Deutsch­land. Jeder Land­kreis ist stolz auf seine Mu­sik­schu­le. Kul­tur in einem wei­ten Sinne, unser Blick dar­auf und das, was wir dafür tun, auch das ge­hört zu uns.

6. In un­se­rem Land ist Re­li­gi­on Kitt und nicht Keil der Ge­sell­schaft. Dafür ste­hen in un­se­rem Land die Kir­chen mit ihrem un­er­müd­li­chen Ein­satz für die Ge­sell­schaft. Sie ste­hen für die­sen Kitt – sie ver­bin­den Men­schen, nicht nur im Glau­ben, son­dern auch im täg­li­chen Leben, in Kitas und Schu­len, in Al­ten­hei­men und ak­ti­ver Ge­mein­de­ar­beit. Ein sol­cher Kitt für un­se­re Ge­sell­schaft ent­steht in der christ­li­chen Kir­che, in der Syn­ago­ge und in der Mo­schee. Wir er­in­nern in die­sem Jahr an 500 Jahre Re­for­ma­ti­on. Für die Tren­nung der christ­li­chen Kir­chen hat Eu­ro­pa, hat Deutsch­land einen hohen Preis ge­zahlt. Mit Krie­gen und jahr­hun­der­te­lan­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Deutsch­land ist von einem be­son­de­ren Staat-Kir­chen-Ver­hält­nis ge­prägt. Unser Staat ist welt­an­schau­lich neu­tral, aber den Kir­chen und Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten freund­lich zu­ge­wandt. Kirch­li­che Fei­er­ta­ge prä­gen den Rhyth­mus un­se­rer Jahre. Kirch­tür­me prä­gen un­se­re Land­schaft. Unser Land ist christ­lich ge­prägt. Wir leben im re­li­giö­sen Frie­den. Und die Grund­la­ge dafür ist der un­be­ding­te Vor­rang des Rechts über alle re­li­giö­sen Re­geln im staat­li­chen und ge­sell­schaft­li­chen Zu­sam­men­le­ben.

7. Wir haben in un­se­rem Land eine Zi­vil­kul­tur bei der Re­ge­lung von Kon­flik­ten. Der Kom­pro­miss ist kon­sti­tu­tiv für die De­mo­kra­tie und unser Land. Viel­leicht sind wir stär­ker eine kon­sens­ori­en­tier­te Ge­sell­schaft als an­de­re Ge­sell­schaf­ten des Wes­tens. Zum Mehr­heits­prin­zip ge­hört der Min­der­hei­ten­schutz. Wir stö­ren uns daran, dass da ei­ni­ges ins Rut­schen ge­ra­ten ist. Für uns sind Re­spekt und To­le­ranz wich­tig. Wir ak­zep­tie­ren un­ter­schied­li­che Le­bens­for­men und wer dies ab­lehnt, stellt sich au­ßer­halb eines gro­ßen Kon­sen­ses. Ge­walt wird weder bei De­mons­tra­tio­nen noch an an­de­rer Stel­le ge­sell­schaft­lich ak­zep­tiert. Wir ver­knüp­fen Vor­stel­lun­gen von Ehre nicht mit Ge­walt.

8. Wir sind auf­ge­klär­te Pa­trio­ten. Ein auf­ge­klär­ter Pa­tri­ot liebt sein Land und hasst nicht an­de­re. Auch wir Deut­schen kön­nen es sein. "Und weil wir dies Land ver­bes­sern, lie­ben und be­schir­men wir‘s. Und das liebs­te mag‘s uns schei­nen, so wie an­dern Völ­kern ihrs", so heißt es in der Kin­der­hym­ne von Bert Brecht. Ja, wir hat­ten Pro­ble­me mit un­se­rem Pa­trio­tis­mus. Mal wurde er zum Na­tio­na­lis­mus, mal trau­ten sich viele nicht, sich zu Deutsch­land zu be­ken­nen. All das ist vor­bei, vor allem in der jün­ge­ren Ge­ne­ra­ti­on. Un­se­re Na­tio­nal­fah­ne und un­se­re Na­tio­nal­hym­ne sind selbst­ver­ständ­li­cher Teil un­se­res Pa­trio­tis­mus: Ei­nig­keit und Recht und Frei­heit.

9. Unser Land hatte viele Zä­su­ren zu be­wäl­ti­gen. Ei­ni­ge davon waren mit Grund­ent­schei­dun­gen ver­bun­den. Eine der wich­tigs­ten lau­tet: Wir sind Teil des Wes­tens. Kul­tu­rell, geis­tig und po­li­tisch. Die Nato schützt un­se­re Frei­heit. Sie ver­bin­det uns mit den USA, un­se­rem wich­tigs­ten au­ßer­eu­ro­päi­schen Freund und Part­ner. Als Deut­sche sind wir immer auch Eu­ro­pä­er. Deut­sche In­ter­es­sen sind oft am bes­ten durch Eu­ro­pa zu ver­tre­ten und zu ver­wirk­li­chen. Um­ge­kehrt wird Eu­ro­pa ohne ein star­kes Deutsch­land nicht ge­dei­hen. Wir sind viel­leicht das eu­ro­päischs­te Land in Eu­ro­pa – kein Land hat mehr Nach­barn als Deutsch­land. Die geo­gra­fi­sche Mit­tel­la­ge hat uns über Jahr­hun­der­te mit un­se­ren Nach­barn ge­formt, frü­her im Schwie­ri­gen, jetzt im Guten. Das prägt unser Den­ken und un­se­re Po­li­tik.

10. Wir haben ein ge­mein­sa­mes kol­lek­ti­ves Ge­dächt­nis für Orte und Er­in­ne­run­gen. Das Bran­den­bur­ger Tor und der 9. No­vem­ber sind zum Bei­spiel ein Teil sol­cher kol­lek­ti­ven Er­in­ne­run­gen. Oder auch der Ge­winn der Fuß­ball­welt­meis­ter­schaf­ten. Re­gio­na­les kommt hinzu: Kar­ne­val, Volks­fes­te. Die hei­mat­li­che Ver­wur­ze­lung, die Markt­plät­ze un­se­rer Städ­te. Die Ver­bun­den­heit mit Orten, Ge­rü­chen und Tra­di­tio­nen. Lands­mann­schaft­li­che Men­ta­li­tä­ten, die am Klang der Spra­che jeder er­kennt, ge­hö­ren zu uns und prä­gen unser Land.



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20.05.2017 um 16:42
Diese zehn Punkte finde ich äußerst gewagt.
Wir können hier gerne über jeden einzelnen diskutiern.

Habermas antwortete darauf:
Der juristisch gebildete Innenminister erstaunt mich. Eine liberale Auslegung des Grundgesetzes ist mit der Propagierung einer deutschen Leitkultur unvereinbar. Eine liberale Verfassung verlangt nämlich die Differenzierung der im Lande tradierten Mehrheitskultur von einer allen Bürgern gleichermaßen zugänglichen und zugemuteten politischen Kultur. Deren Kern ist die Verfassung selbst. Erforderlichenfalls können Minderheiten sogar kulturelle Rechte einklagen, die ihnen erlauben, die Integrität ihrer Lebensform im Rahmen der gemeinsamen politischen Kultur zu wahren. Keine Muslima darf dazu genötigt werden, beispielsweise Herrn de Maizière die Hand zu geben.
Der österreichische Rechtsphilosoph argumentiert ähnlich:
STANDARD: Gibt es einen Wert, den Sie über alle anderen stellen würden?

Stadler: Da mache ich mich sehr unbeliebt. Ich habe eine Neuordnung der Grundprinzipien der Verfassung vorgeschlagen. Es heißt ja überall: Zuerst kommt Demokratie, dann Republik ... Ich sage: Nein, zuerst kommt das liberale Prinzip. Das ist im Kern das, was alles trägt. Wir haben einen liberalen Verfassungsstaat. Da können wir andocken. Liberalismus, Menschenwürde, ein Kernelement in der Wertedebatte ... 
Stadler stellt also Liberalismus über Demokratie. Sehr interessant finde ich.
Was sagt Ihr dazu?


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24.05.2017 um 21:55
Schade, dass keiner zur Leitkultur von de Maizière etwas schreiben will.
Ich finde die meisten davon fraglich. Braucht kein Mensch.

Na gut ich versuche es mit Themenwechsel.


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24.05.2017 um 22:06
@DieLilly
Ich sehe nicht, in welcher Konkurrenz Liberalismus und Demokratie stehen sollten. Insofern sehe ich da auch keine sich ausschließende Rangfolge. Das eine ist ein philosophischer, sozialer Standpunkt, das andere eine mögliche Ausgestaltung als Herrschaftsform.


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24.05.2017 um 22:11
Zu der Leitkultur. Gerade mal durchgelesen. Ich habe zu meiner Überraschung eigentlich mit keinem Punkt ein größeres Problem. Ich hoffe nur, dass ich nicht mit dem Alter konservativer werde..^^


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24.05.2017 um 22:11
@vincent

Ich gebe Dir ein Beispiel:

Liberale Gesetzesgestaltung wäre Homosexuellen völlig gleiche Rechte zu geben wie gleichgeschlechtlichen Paaren.

Demokratie wäre darüber abstimmen zu lassen.

Indem Stadler Liberalismus über Demokratie stellt, (das macht übrigens auch Habermas - lies mal sein Zitat), heißt das, dass man in eindeutigen Fällen das Volk nicht darüber abstimmen lassen soll. So wie man auch die Mehrheit nicht über andere Minderheitenrechte abstimmen lassen soll.


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24.05.2017 um 22:22
@DieLilly
Hm, sehe ich nicht ganz ein. Liberale Gesetzesgestaltung ist dann liberal, wenn sie dem Bürger gegenüber keine einschränkende Vorschriften macht. Die Ehe ist ein rechtliches Privileg, insofern kann man dann halt schon argumentieren, dass keine Nachteile durch die Verweigerung entstehen. Die Menschen sind ja schließlich frei in ihrer Lebensgestaltung. Wobei ich zugeben muss, dass mir die Steuervorteile in dem Kontext nicht ganz klar sind.
Nur nebenbei: Ich persönlich sehe es als vollkommen schwachsinnig an, Homosexuellen das Recht zu verweigern.

Wenn man so will, kann man dann auch sagen, dass Sozialleistungen nicht dem liberalen Gedanken entsprechen, was dann der falsche Weg wäre.
Zitat von DieLillyDieLilly schrieb:Indem Stadler Liberalismus über Demokratie stellt, (das macht übrigens auch Habermas - lies mal sein Zitat), heißt das, dass man in eindeutigen Fällen das Volk nicht darüber abstimmen lassen soll. So wie man auch die Mehrheit nicht über andere Minderheitenrechte abstimmen lassen soll.
Sehe persönlich auch hier kein Konflikt. Überall wo die Rechte und Bedürfnisse anderer nicht tangiert werden, ist eine Abstimmung doch obsolet. Ansonsten stimmt man halt ab, und auch das ist dann im Kern liberal, weil alle Betroffenen ihre ihre Interessen wahren können.
Unveräußerliche Rechte außen vor gelassen.


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24.05.2017 um 22:24
Ist aber ein ziemlich interessanter Thread sehe ich gerade. Muss mir mal einiges durchlesen und mir etwas mehr den Kopf anstrengen.


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24.05.2017 um 22:59
Zitat von vincentvincent schrieb:Liberale Gesetzesgestaltung ist dann liberal, wenn sie dem Bürger gegenüber keine einschränkende Vorschriften macht.
Das sehe ich nicht so.
Ich denke, dass klingt ein wenig nach Wirtschaftsliberalismus:
Nur nicht zu viele Regeln, der Markt regelt sich schon von alleine. Als Folge haben wir Wirtschaftskapitalismus, der horrende Folgen für Menschen (Ausbeutung, moderne Sklaverei) und die Umwelt (Globalisierung - Rinderzucht auf Böden des Regenwaldes) hat.

Nein was ich unter liberal verstehe, ist was hier in Wiki steht:

Wikipedia: Liberalismus
Verfassungsliberalismus

John Locke
Laut dem Liberalismus ist die Aufgabe einer Verfassung, die naturgegebenen Rechte der Bürger vor der Allmacht des Staates zu schützen. John Locke, einer der wichtigsten Begründer des Liberalismus, postulierte in seinem 1689 veröffentlichten Werk Two Treatises of Government (deutsch: Zwei Abhandlungen über die Regierung) Freiheit, Leben und Eigentum als unveräußerliche Rechte eines jeden Bürgers. Die Rechte auf Freiheit, Leben und Eigentum werden als elementare Menschenrechte angesehen. Die liberale Verfassung soll diese Menschenrechte durch die Begrenzung der Staatsmacht vor willkürlichen Eingriffen des Staates schützen. Diese sind vor und von dem Staat zu schützen und haben Vorrang auch vor demokratisch herbeigeführten Entscheidungen.
Liberalismus soll aber nicht nur die Grundrechte garantieren:
John Stuart Mill formulierte in seiner Schrift On Liberty (dt: Über die Freiheit) das Prinzip, „dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumischen befugt ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gesellschaft rechtmäßig ausüben darf: die Schädigung anderer zu verhüten.“
Das ist ganz wichtig und das verstehen die meisten nicht wenn zB ein verschärftest Nichtrauchergesetz eingeführt wird:

Die Schädigung anderer ist zu verhüten!!!!

wenn Du also schreibst:
Liberale Gesetzesgestaltung ist dann liberal, wenn sie dem Bürger gegenüber keine einschränkende Vorschriften macht.
,

ist das insofern falsch, als sie nur deswegen einschränkt weil die Gesetzgebung andere schützt!
Zitat von vincentvincent schrieb:Ist aber ein ziemlich interessanter Thread sehe ich gerade. Muss mir mal einiges durchlesen und mir etwas mehr den Kopf anstrengen.
Ich würde mich freuen wenn du mitdiskutierst. Gebe zu, das Thema ist ziemlich heftig und ich ertappe mich selbst dabei umzudenken bzw. lerne ich bei jedem Beitrag dazu.


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24.05.2017 um 23:03
Eine absolute Gerechtigkeit ist kaum herstellbar, da die Wertvorstellungen (Gewichtungen) – über die parteilichen Parameter – den o.a. Ausgleich, wegen unterschiedlichen subjektiven Wahrnehmungen und Sichtweisen, erschwert.

Dennoch ist das Streben nach größtmöglicher Gerechtigkeit immer mehr im Vordergrund von kulturellen Wertesystemen – vor allem in der westlichen Welt. Insbesondere das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland legt Wert auf Gerechtigkeit in vielen Bereichen des Zusammenlebens.

Auch weltweit wird Gerechtigkeit zunehmend als ein Grundwert (Grundnorm) deklariert – im Bereich der Ethik, den kontinentalen Sozialwissenschaften und der nationalen Gesetzgebung.

Platon definierte Gerechtigkeit als innere Einstellung und ist eine der sog. Kardinaltugenden, welche das Verhältnis von „Begehren“, „Mut“ und „Vernunft“ in Einklang bringt.

Die Globalisierung lässt die Menschheit ein neues Bewusstsein erlangen, da die wesentlichen Herausforderungen (Klimawandel, Wachstum der Menschheit, Knappheit der Ressourcen, Wirtschaftskrisen, Finanzkrisen) alle betreffen und demnach Gerechtigkeit nicht alleine auf nationaler Ebene hergestellt werden muss.

Und wo fangen wir jetzt an?


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24.05.2017 um 23:06
Zitat von vincentvincent schrieb: Muss mir mal einiges durchlesen und mir etwas mehr den Kopf anstrengen.
So geht es mir auch.


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24.05.2017 um 23:09
@NoSleep
@vincent

Jetzt wisst Ihr wies mir geht ;-)

Da postet jemand ein Video das 1,5 Stunden dauert und ich sitze einen halben Tag bis ich den Inhalt verstanden habe, dazu recherchiert habe und darauf antworten kann.

Aber gerade das Video von @dedux hat mich ordentlich weiter gebracht.


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24.05.2017 um 23:41
@DieLilly
Zitat von DieLillyDieLilly schrieb:ist das insofern falsch, als sie nur deswegen einschränkt weil die Gesetzgebung andere schützt!
Nein, die Beschreibung von @vincent war aus meiner Sicht schon völlig korrekt. Liberalismus bedeutet in erster Linie möglichst viel Freiheit und wenig Vorschriften. Das worauf du dich da beziehst, ist eher eine Einschränkung dieses Prinzips - Vorschriften sind zum Schutz der Freiheit anderer ausnahmsweise erlaubt - nicht sein Hauptmerkmal.


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24.05.2017 um 23:56
Zitat von raitoninguraitoningu schrieb:möglichst viel Freiheit
Das funktioniert anscheinend nur mit Kohlberg Stufe 6.

Ansonsten muss Gesetzgebung so viel vorschreiben als nötig ist.
Liberale Gesetzgebung im Sinne von möglichst vielen persönlichen Freiheiten - allerdings solange sie nicht andere einschränkt.
Zum Schutz anderer muss man ja so viele Detailgesetze einführen.

Niemand wäre auf die Idee gekommen für das Internet in eigenen Gesetzen vorzuschreiben was man im Kommentaren schreiben darf und was nicht, wenn die Poster das nicht ausgenützt hätten und zwar zum Nachteil anderer Menschen.
Die Freiheit des Postens und der Meinungsfreiheit wird also insofern eingeschränkt, als sie andere nicht beleidigt oder herabwürdigt.


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25.05.2017 um 00:05
@DieLilly

Das war doch jetzt gar nicht der Punkt.
Dass auch eine liberale Gesetzgebung ein gewisses Maß an Vorschriften erfordert, eben um die Freiheit aller schützen zu können, steht ja außer Frage.

Nur bedeutet liberal in erster Linie so frei wie möglich. Das ist das Hauptmerkmal. Und um das für alle gewährleisten zu können, muss man eben die Einschränkung machen, trotzdem so weit mit Gesetzen einzugreifen, dass diese Freiheit auch für alle gewährleistet werden kann.
Aber das primäre Ziel des Liberalismus besteht nicht, wie von dir dargestellt, darin, Leute vor irgendwas zu schützen. Weshalb der von dir kritisierte Satz nicht falsch war. Deine Aussage war es im Übrigen genauso wenig, aber sie widerlegt die ursprüngliche nicht.


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25.05.2017 um 01:09
@raitoningu

Finde ich super, dass Du so genau mitliest.
Zitat von raitoninguraitoningu schrieb:Vorschriften sind zum Schutz der Freiheit anderer ausnahmsweise erlaubt
Du hast Recht. Eigentlich sollten die Einschränkungen nur ausnahmsweise erlaubt sein zum Schutz der Freiheit des anderen.
Der totale Liberalismus hat aber nicht funktioniert. Deswegen müssen so viele Einschränkungen zum Schutz anderer festgehalten werden.

Was Rechtsphilosoph Stadler aber eigentlich meint wenn er Liberalismus über Demokratie stellt, ist gerade ein Recht der Minderheit auf Ausleben ihrer eigenen Kultur solange es nicht die Freiheit anderer einschränkt:

Im Standard Interview meint Stadler:
Rechtsstaatlichkeit zum Beispiel setzt als Wert Gerechtigkeit voraus. Was ist die Voraussetzung für Gerechtigkeit? Etwa eine wechselseitig zu leistende Anerkennung der Person und ihrer Würde. Damit sind wir mitten in der Integrationsdebatte. Integration gelingt nur, wenn es eine solche gelebte wechselseitige Anerkennung gibt. Wann ist ein Mensch in der Lage, jemanden anzuerkennen? Wenn es ein respektvolles Miteinander – etwa auch im Alltag – gibt. Ist jemandem die Hand zu geben oder in die Augen zu schauen ein Akt des Respekts oder das Verweigern desselben?
In Japan zB. muss man die Schuhe ab einem bestimmen Bereich ausziehen. Mit Straßenschuhen auf einem Teppich ist absolut tabu.
Straßenschuhe gelten als dreckig.

Das Nicht-Händeschütteln hat ihren Grund in der Periode der Frau. In dieser Zeit gilt die Frau sowohl im Islam als auch im Judentum als tabu. Die Periode wird mit unrein assoziiert. Ist so. Deswegen gab es auch die Mikwe, wo sich Frauen nach Ende der Periode reinigten.

Seltsamerweise haben viele das Problem des Nicht-Händeschüttelns bei Juden nicht. Sie sehen das nur bei Moslems. Auch jüdische Frauen verdecken ihre Haare. Nicht mit Kopftüchern sondern mit Perücken. Niemand schreit: Perückenverbot!

Das heißt ein Verbot von Kopftuch oder das Fordern des Händeschüttelns wäre eine Einschränkung des liberalen Prinzips.
Demokratisch würde die Mehrheit das aber vermutlich einfordern. Allerdings wird durch das Kopftuchtragen niemand eingeschränkt solange die Kopftuchträgerin das freiwillig macht.

Eine Einschränkung macht Stadler:
Stadler:
Mein Verständnis ist, dass in staatshoheitlichen Funktionen natürlich eine gewisse Neutralität angebracht ist.

STANDARD: Würden Sie die Schule da auch einbeziehen wollen?

Stadler: Das ist ein bisschen die Frage. Es kommt nämlich auch immer darauf an, wie man die Dinge deutet. Letztlich kommen schulische Lehrkräfte in unserem Pflichtschulsystem einem staatlichen Bildungsauftrag nach. Wenn aus bloßen Kleidervorschriften durch radikale Strömungen politische Demonstrationen gemacht werden, auch wenn das die Trägerin selbst vielleicht gar nicht beabsichtigt hat, dann kann ich verstehen, dass man damit ernste Probleme hat. Das kann man am einfachsten durch Verzicht auf Symbolik im direkten staatlichen Hoheitsbereich lösen.
Wobei ich den letzten Satz ganz wichtig finde:
Verzicht auf Symbolik im direkten staatlichen Hoheitsbereich
Das bedeutet auch: Keine Kreuze in Klassenzimmern oder Gerichtssaal.

Hier widerspricht sich nämlich de Maizière in seinem Punkt 6, auch wenn er es nicht so deutlich sagt.

Gerechtigkeit bedeutet: Alle gleich behandeln.

Keine Kopftücher - keine Kreuze

Liberalismus bedeutet: Kopftücher erlauben wo keine politische Symbolik dahinter steht und Freiwilligkeit gegeben ist.


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25.05.2017 um 09:04
Zitat von DieLillyDieLilly schrieb:Das bedeutet auch: Keine Kreuze in Klassenzimmern oder Gerichtssaal.
Ist sowieso die Frage wie weit das dann gehen sollte.
Demnach keine Punks, keine Hippie (scheiß auf Staat, licht und liebe für alle ect :D) Symbolik mehr.
Das hätte schon etwas totalitäres, alle sollen sich dem System unterordnen UND das auch noch zur Schau stellen, als Symbol dafür, dass das herrschende System so toll ist.

Andereseits geht es in der Realpolitik eben auch darum einen Kompromiss zu finden, mit denen allle halbwegs leben können und real darf man es da nicht überspannen. Alles muss auch immer durch die Gesellschaft mit getragen werden, auch wenn 60 % gegen etwas sind.
Trotzdem ist es erforderlich, dass diese 60 % eben nicht auf die Barikaden gehen, man darf den Bogen also nicht überspannen.


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25.05.2017 um 10:03
Zitat von YoooYooo schrieb:Demnach keine Punks, keine Hippie (scheiß auf Staat, licht und liebe für alle ect :D) Symbolik mehr.
Da verstehe ich den Zusammenhang nicht.
Jeder darf sich kleiden und Symbole tragen wie er will.

Aber ich dürfte in der Schule oder im Gerichtssaal aus öffentlicher Sicht (Richter, Lehrer) keine Symbole verwenden.
Punks als Kleidung kann man sicher schwer von irgendetwas abgrenzen. Aber "Anarchiesymbolik" aber auch "Anonymus Symbole" hätten im Gericht und in der Schule nichts verloren. Nicht umsonst gibt es auch im Gericht eine Kleidervorschrift um ein gewisses Klima der Ernsthaftigkeit zu erzeugen. Ob eine Kleidungsvorschrift in der Schule oder im Krankenhaus (warum nicht T-Shirts für Ärzte statt weißer Kittel) angemessen ist, kann man diskutieren, hat jetzt aber nicht unbedingt etwas mit Symbolik zu tun, denn ein Richter mit indischen Wurzeln muss die gleiche Berufskleidung tragen wie sein eingeborener österreichischer Kollege. Ob die Kleidung Kreuze zieren darf wäre eine andere Frage.

Wenn man mit gutem Beispiel vorangeht und sagt: "Wir haben keine Kreuze in der Schule und im Gericht mehr, dafür dürfen Lehrerinnen im Unterricht auch kein Kopftuch tragen", könnte das aus den Sinne der Gerechtigkeit in Ordnung gehen und wäre vermutlich allgemein akzeptiert.
Ein generelles Kopftuchverbot wäre eine liberale Einschränkung.
Deswegen meint der Rechtsphilosoph: Liberalismus über Demokratie.


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25.05.2017 um 13:32
Zitat von DieLillyDieLilly schrieb:hat jetzt aber nicht unbedingt etwas mit Symbolik zu tun
Warum soll das nichts damit zu tun haben?
Wenn ein Richter oder ein Lehrer etwas bestimmtes anziehen muss, ist das auch ein Symbol.
Ich glaube nicht, dass Symboliken nur Religionen und Abstammungen vorbehalten sind.
Wenn jemand etwas bestimmtes anziehen soll, so soll er damit etwas zur Schau stellen.
Nur dass er es nicht kann oder darf, sondern muss.


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