Gedichte aus aller Welt
29.12.2021 um 23:08
ICH LIEBE DIE SANFTMUT...
Ich liebe die Sanftmut, und trete
ich über die Schwelle einer Einsamkeit,
öffne ich die Augen und lasse sie überlaufen
von der Süße ihres Friedens.
Ich liebe die Sanftmut über
allen Dingen dieser Welt.
Ich finde in der Beruhigung der Dinge
ein großes und ein stummes Lied.
Die Augen zum Himmel wendend,
gewahre ich im Erschauern der Wolken,
im Vogel, der vorüberzieht, und im Wind
die große Süße der Sanftmut
(Pablo Neruda)
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Gedichte aus aller Welt
29.12.2021 um 23:14
Der Kranich
Rau ging der Wind, der Regen troff,
Schon war ich nass und kalt;
Ich macht auf einem Bauernhof
Im Schutz des Zaunes halt.
Mit abgestutzten Flügeln schritt
Ein Kranich drin umher.
Nur seine Sehnsucht trug ihn mit
Den Brüdern übers Meer;
Mit seinen Brüdern, deren Zug
Jetzt hoch in Lüften stockt,
Und deren Schrei auch ihn zum Flug
In fernen Süden lockt.
Und sieh, er hat sich aufgerafft,
Es gilt erneutes Glück;
Umsonst, der Schwinge fehlt die Kraft,
Und ach, er sinkt zurück.
Und Huhn und Hahn und Hühnchen auch
Umgackern ihn voll Freud;
Das ist so alter Hühnerbrauch
Bei eines Kranichs Leid.
Theodor Fontane
deutscher Schriftsteller
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Gedichte aus aller Welt
29.12.2021 um 23:36
Julinacht
Die Mondeslichter rinnen
Aus sterndurchsprengtem Raum
Zur regungslosen Erde,
Die müde atmet kaum.
Wie schlummertrunken schweigen
Die Linden rund umher,
Des Rauschens müde, neigen
Herab sie blütenschwer.
Nur manchmal, traumhaft leise,
Rauscht auf der Wipfel Lied,
Wenn schaurig durchs Geäste
Ein kühler Nachthauch zieht.
Mein Herz ist ruh-umfangen,
Ist weltvergessen still,
Kein Sehnen und Verlangen
Die Brust bewegen will.
Nur manchmal, traumhaft leise,
Durchzieht der alte Schmerz,
Wie Nachtwind durchs Geäste,
Das müdgeliebte Herz.
Felix Dörmann (1870-1928)
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Gedichte aus aller Welt
30.12.2021 um 06:00
Allein
Einsam stand ich auf den Bergen,
Wo der Falke kreischend flog,
Über schneebedecktem Gipfel
Seine stillen Kreise zog.
Einsam lag ich auf der Haide
Wenn die Sonne untersank,
Und der dürre glüh'nde Boden
Gierig feuchte Nebel trank.
Einsam saß ich oft am Meere,
Dessen alter Klaggesang
Bald wild-zornig, bald süß-traurig,
Bald wie dumpfes Schluchzen klang.
Einsam irrt ich durch die Wälder,
Nur die Eul' am Felsenriff
War mein krächzender Gefährte
Und der Wind, der wimmernd pfiff.
Einsam litt ich - aber tröstend
War die hehre Einsamkeit -
Nicht allein trug ich mein Elend,
Die Natur verstand mein Leid!
Doch allein - so ganz alleine -
Abgrundtief von Euch entfernt,
Fand ich mich in Euren Sälen -
Als ich Euch versteh'n gelernt.
Ada Christen, 1870
österreichische Schriftstellerin.
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Gedichte aus aller Welt
30.12.2021 um 06:20
Winterlied
Das Feld ist weiß, so blank und rein,
Vergoldet von der Sonne Schein,
Die blaue Luft ist stille;
Hell, wie Kristall
Blinkt überall
Der Fluren Silberhülle.
Der Lichtstrahl spaltet sich im Eis,
Er flimmert blau und rot und weiß,
Und wechselt seine Farbe.
Aus Schnee heraus
Ragt, nackt und kraus,
Des Dorngebüsches Garbe.
Von Reifenduft befiedert sind
Die Zweige rings, die sanfte Wind'
Im Sonnenstrahl bewegen.
Dort stäubt vom Baum
Der Flocken Pflaum
Wie leichter Blütenregen.
Tief sinkt der braune Tannenast
Und drohet, mit des Schnees Last
Den Wandrer zu beschütten;
Vom Frost der Nacht
Gehärtet, kracht
Der Weg, von seinen Tritten.
Das Bächlein schleicht, von Eis geengt;
Voll lautrer blauer Zacken hängt
Das Dach; es stockt die Quelle;
Im Sturze harrt,
Zu Glas erstarrt,
Des Wasserfalles Welle.
Die blaue Meise piepet laut;
Der muntre Sperling pickt vertraut
Die Körner vor der Scheune.
Der Zeisig hüpft
Vergnügt und schlüpft
Durch blätterlose Haine.
Wohlan! auf festgediegner Bahn,
Klimm ich den Hügel schnell hinan,
Und blicke froh ins Weite;
Und preise den,
Der rings so schön
Die Silberflocken streute.
Johann Gaudenz Freiherr von Salis-Seewis
Schweizer Dichter
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Gedichte aus aller Welt
30.12.2021 um 06:21
In jedem Winter
steckt ein zitternder Frühling,
und hinter dem Schleier jeder Nacht
verbirgt sich ein lächelnder Morgen.
Khalil Gibran
libanesisch-US-amerikanischer Maler, Philosoph und Dichter.
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Gedichte aus aller Welt
30.12.2021 um 06:24
Jetzt, wo der Garten im Schnee versinkt,
erinnert sich der Gärtner plötzlich, das er eines vergessen hatte:
den Garten anzusehen.
Denn dazu ... hat er ja niemals Zeit gehabt.
Wollte er im Sommer den blühenden Enzian betrachten,
mußte er unterwegs stehenbleiben,
um den Rasen von Unkraut zu reinigen.
Wollte er sich an der Schönheit des Rittersporn erfreuen,
mußte er ihm Stöcke geben...
Standen die Flammenblumen in Blüte,
jätete er die Quecken aus...
Was wollt ihr, immer gab es etwas zu tun.
Kann man denn die Hände in die Taschen stecken
und im Garten herumgaffen?
Karel Čapek
tschechischer Schriftsteller, Übersetzer, Journalist und Fotograf.
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Gedichte aus aller Welt
30.12.2021 um 06:27
Augen in der Großstadt
Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
dann zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Vielleicht dein Lebensglück...
vorbei, verweht, nie wieder.
Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast’s gefunden,
nur für Sekunden...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück...
vorbei, verweht, nie wieder.
Du musst auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.
Tucholsky, Kurt
deutscher Journalist und Schriftsteller
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Gedichte aus aller Welt
30.12.2021 um 07:12
Wie teuer sind uns Kinderlein
Wie teuer sind uns Kinderlein,
Anna Grigorijewna, doch,
Nur Lilja und zwei Jungs allein -
Ins Elend führen sie uns noch!
Дорого стоят детишки
Дорого стоят детишки,
Анна Григорьевна, да,
Лиля да оба мальчишки –
Вот она наша беда!
Dostojewski
Fjodor Michailowitsch Dostojewski gilt als einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller.
1821-1881
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Gedichte aus aller Welt
01.01.2022 um 20:35
Wintergedanken eines Gärtners
Alljährlich pflegen wir zu sagen,
daß die Natur ihren Winterschlaf antrete…
Du lieber Gott, und das soll Schlaf sein? …
Eher möchte man sagen, die Natur habe aufgehört,
nach oben zu wachsen, weil sie keine Zeit dafür hat.
Sie krempelt sich nämlich die Ärmel auf und wächst nach unten…
Hier wachsen neue Stengel; von hier bis dort,
in diesen herbstlichen Grenzen drängt das märzliche Leben hervor,
hier unter der Erde wird das grosse Frühlingsprogramm entworfen.
Jetzt, wo der Garten im Schnee versinkt,
erinnert sich der Gärtner plötzlich, das er eines vergessen hatte:
den Garten anzusehen.
Denn dazu … hat er ja niemals Zeit gehabt.
Wollte er im Sommer den blühenden Enzian betrachten,
mußte er unterwegs stehenbleiben,
um den Rasen von Unkraut zu reinigen.
Wollte er sich an der Schönheit des Rittersporn erfreuen,
mußte er ihm Stöcke geben…
Standen die Flammenblumen in Blüte,
jätete er die Quecken aus…
Was wollt ihr, immer gab es etwas zu tun.
Kann man denn die Hände in die Taschen stecken
und im Garten herumgaffen?
Karel Capek (1890-1928)
tschechischer Schriftsteller
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Gedichte aus aller Welt
02.01.2022 um 08:39
Ruhm, Jugend, Stolz – das Grab weiß alle zu erfassen!
Etwas gern möchte wohl der Mensch zurücke lassen
Beim Scheiden aus der Zeit!
Umsonst! Die Dinge gehn zurück, von wo sie kamen;
Den Rauch, die Luft, den Staub, die Erde – heim
Den Namen
Nimmt die Vergessenheit.
Victor Hugo (1802 - 1885),
franz. Schriftsteller
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Gedichte aus aller Welt
04.01.2022 um 09:43
Winter.
In den jungen Tagen
Hatt' ich frischen Mut,
In der Sonne Strahlen
War ich stark und gut.
Liebe, Lebenswogen,
Sterne, Blumenlust!
Wie so stark die Sehnen!
Wie so voll die Brust!
Und es ist zerronnen,
Was ein Traum nur war;
Winter ist gekommen,
Bleichend mir das Haar.
Bin so alt geworden,
Alt und schwach und blind,
Ach! verweht das Leben,
Wie ein Nebelwind!
Adelbert von Chamisso ,
deutscher Naturforscher und Dichter französischer Herkunft.
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Gedichte aus aller Welt
04.01.2022 um 10:21
Alles war ein Spiel
In diesen Liedern suche du
Nach keinem ernsten Ziel!
Ein wenig Schmerz, ein wenig Lust,
Und alles war ein Spiel.
Besonders forsche nicht danach,
Welch Antlitz mir gefiel,
Wohl leuchten Augen viele drin,
Doch alles war ein Spiel.
Und ob verstohlen auf ein Blatt
Auch eine Träne fiel,
Getrocknet ist die Träne längst,
Und alles war ein Spiel.
Conrad Ferdinand Meyer
(* 11.10.1825, † 28.11.1898)
Schweiz
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Gedichte aus aller Welt
05.01.2022 um 06:52
Thomas Moore (1779-1852)
irischer Dichter
Wenn durch die Piazzetta
Die Abendluft weht,
Dann weißt du, Ninetta,
Wer wartend hier steht.
Du weißt, wer trotz Schleier
Und Maske dich kennt,
Wie Amor die Venus
Am Nachtfirmament.
Ein Schifferkleid trag' ich
Zur selbigen Zeit,
Und zitternd dir sag' ich:
"Das Boot liegt bereit!
O, komm! Jetzt, wo Lunen
Noch Wolken umziehn,
Laß durch die Lagunen,
Mein Leben, uns fliehn!"
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Gedichte aus aller Welt
05.01.2022 um 06:54
Der Spielman
Im Städtchen gibt es des Jubels viel,
Da halten sie Hochzeit Mit Tanz und mit Spiel.
Dem Fröhlichen blinket der Wein so rot,
Die Braut nur Gleicht dem getünchten Tod.
Ja, tot für den, den nicht sie vergißt,
Der doch beim Fest nicht Bräutigam ist :
Da steht er inmitten des Gäste im Krug
Und streichet die Geige lustig genug.
Er streichet die Geige, sein Haar ergraut,
Es schwingen die Saiten gellend und laut,
Er drückt sie ans Herz und achtet es nicht,
Ob auch sie in tausend Stückchen zerbricht.
Es ist gar grausig, wenn einer so stirbt,
Wenn jung sein Herz um Freude noch wirbt.
Ich mag und will nicht länger es sehn !
Das möchte den Kopf mir schwindelnd verdrehn !
Wer heißt euch mit Fingern zeigen auf mich ?
O Gott, bewahr uns gnädiglich,
Daß keinen der Wahnsinn übermannt.
Bin selber ein armer Musikant.
Hans Christian Andersen
(* 02.04.1805, † 04.08.1875)
Dänemark
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Gedichte aus aller Welt
10.01.2022 um 09:26
Ein Vogel will sich in die Luft erheben,
selbst wenn sein Käfig golden wär.
Ein Fluss gräbt sich seinen Weg ins Meer,
selbst wenn ihn Dämme hindern wollten.
Mein Herz ruft deinen Namen,
selbst wenn du meinen vergessen würdest.
Khalil Gibran (libanesisch-amerikanischer Philosoph und Dichter)
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Gedichte aus aller Welt
13.01.2022 um 06:27
An eine im Paradiese
Du warst mir, was zum Bilde
Die Seele früh erkor:
Ein Eiland, wo die wilde
Unrast sich sanft verlor,
Ein Schrein, und davor milde
Ein Weiheblumenflor.
O trügendes Geschick!
O Sternentraum! hienieden
Verweht im Augenblick.
»Hinan,hinan«! die Zukunft ruft;
Doch kreist noch ohne Frieden
Um das Vergangne (dunkle Kluft)
Mein Geist wie abgeschieden.
Denn um mich, weh, ach weh,
Ist Nacht, wo ich auch bin,
Es raunt die dumpfe See
Ans Ufer dunklen Sinn:
»Dahin - dahin - dahin!«
Und tags in wachen Träumen,
Und wenn die Nacht entsinkt,
Wo deine Stapfen säumen,
Wo noch dein Auge blinkt -
In welchen seligen Räumen!
Bei Tänzen, wie beschwingt!
Edgar Allan Poe
(* 19.01.1809, † 07.10.1849)
Edgar Allan Poe war ein US-amerikanischer Schriftsteller.
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13.01.2022 um 06:28
Ein Traum
Oft fand ich mein entschwundnes Glück
In einem nächtlichen Gesicht,
Doch ließ mich hoffnungslos zurück
Ein wacher Traum im Tageslicht.
Ach, was ist nicht ein solcher Traum
Für ihn, der mitten in der Flucht
Der Dinge über Zeit und Raum
Der Seele einen Stützpunkt sucht!
O dieser Traum - dieweil in Qual
Und Wirrnis um mich lag die Welt -
Hat wie ein Schutzgeist manches Mal
Sich zu mir Einsamen gesellt.
Was durch der Täuschung Dämmerlicht
So tröstend schimmerte von fern -
War es dem Herzen teurer nicht,
Als selbst der Wahrheit Tagesstern?
Edgar Allan Poe
(* 19.01.1809, † 07.10.1849)
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Gedichte aus aller Welt
13.01.2022 um 06:32
Der Januar
Der Januar ist weiß Gott kein langweiliger Gartenmonat.
In diesem Monat der Hoffnung und Erwartung werden die Tage wieder länger
und vorwitzige Primeln und Veilchen kündigen das Frühjahr an.
Dicke Knospen zeigen sich zwischen dem bunten Bergenienlaub
und überall sprießen neue Blätter aus dem Boden.
Unter - und oberhalb der Erdoberfläche regt es sich,
und für den Gärtner beginnt ein neues Jahr voller Überraschungen und Abenteuer...
Viele Januarblüten sind so klein, daß man sie im Hochsommer kaum bemerken würde.
Wenn der Garten jedoch kahl ist, wird jede winzige Blüte so bewundert, wie sie es verdient.
Dann ist Zeit genug, in die Blüte zu schauen,
ihre Feinheiten zu studieren und sie einem Kunstwerk gleich zu bestaunen.
Fish, Margery (1893-1969)
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