Franz Mehring - Das Leben und Werk des Karl MarxFranz Mehrings Lebensbeschreibung von Karl Marx ist 1918, kurz vor Mehrings Tod, veröffentlicht worden. Es ist streckenweise eine Hagiographie, eine Heiligengeschichte, und etwas mühsam zu lesen. Bis zum "Kapital" zeigt Mehring gute Textkenntnis von Marx und Engels, der zweite Teil über die Internationale, die nationalen Parteigründungen sowie die elendslange Auseinandersetzung mit Bakunin scheint vorauszusetzen, welche Streitpunkte es gab. Erschließbar aus diesem Werk ist es nicht. Deutlich merkbar ist, dass Mehring sich der kommunistischen Abspaltung angeschlossen hat, jedoch keine Kenntnis über die Umsetzung haben konnte.
Anerkennend bemerkt Mehring, dass Marx' Grundsatz war, dass Schreiben für ihn nicht Gewerbe ist, er keine Auftragsarbeiten schreibt. Dies war einer der Gründe, warum Marx eigentlich - trotz auch einer adeligen Heirat - mehr oder weniger sein ganzes Leben in ärmlichen Verhältnissen gelebt hat.
Bezüglich der Lebensleistung schließt sich Mehring an Engels' Grabrede an: Marx hat die Geschichtskraft von Klassen und die Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung entdeckt, er hat die Triebkraft des Mehrwert entdeckt und mit der Gründung der Internationalen eine organisierte Arbeiterschaft gestaltet.
Sehr ausführlich ist die Auseinandersetzung des jungen Marx mit der Philosophie Hegels geschildert sowie seine Auseinandersetzung mit dem Atheisten Feuerbach. Auch die journalistische Tätigkeit erhält einen breiten Raum zugewiesen, mit der er sich mit verschiedensten sozialistischen Denkern auseinandergesetzt hat, um schließlich mit Engels im
Kommunistischen Manifest 1848 seine eigene, von ihm selbst als wissenschaftlich bezeichnete Konzeption einer post-kapitalistischen Gesellschaft bzw. der Umwälzung vorlegte. Marx sehe im Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse einen politischen Akt. In späteren Werken ist Marx der Ansicht, dass die Abschaffung der Klassen und die Herrschaft des Proletariats in Bürgerkriegen von bis zu 50 Jahren vollzogen werden muss.
Marx' Überlegungen wurden daher bereits vor der Veröffentlichung des Manifests diskutiert und am deutlichsten hat der französische Sozialist Proudhon die Revolutionsvorstellungen von Marx 1846 in einem Brief an ihn kritisiert, dass Marx der Arbeiterschaft "nichts zum Trinken bieten könne als Blut". In der Antwort macht sich Marx darüber lustig, doch die Geschichte der kommunistischen Bewegung im 20. Jahrhundert belegt, dass Proudhon in seiner Analyse richtig gelegen hat.
Über die Jahrzehnte hinweg zeigt sich, dass Marx (und auch Engels) in der Bewertung aktueller historischer Ereignisse sehr situationselastisch vorgegangen sind. Grundthese ist, dass ein Ereignis die Geschichte nach dem Marx'schen Schema voranzutreiben hat. Die Mittel sind egal. Besonders deutlich zeigt sich dies während des Französischen Kriegs von 1870/71. Zunächst begrüßt Marx den preußischen Krieg gegen Frankreich, da damit der Neo-Napoleanismus in Frankreich zertrümmert werden und in Deutschland eine Staatseinigung vollzogen werden könne, was in beiden Ländern eine bessere Ausgangsbasis für einen revolutionären Kampf böte. Einige Monate später übernimmt er die zuvor kritisierte Position, dass Preußen einen imperialistischen Krieg führe. Das "alte England" könne nur durch einen Weltkrieg gestürzt werden, wonach der Weg für eine chartistische Revolution frei werde. Lenin scheint diese These für Russland adaptiert zu haben. Da Marx die Vertreter der jeweiligen Gegenstandpunkte regelmäßig mit beißendem Hohn überschüttete, machte ihn vermutlich zu einem sehr mühsamen Zeitgenossen.
Die politische Form und der Einzelmensch waren ihm offensichtlich durchgehend ziemlich egal. Der Mensch müsse laut Marx zum "Gattungswesen" werden. Kollektiv über Individuum. Liberalismus lehnte er ab, Parlamente waren für ihn Schwatzbuden und die Durchsetzung von Arbeiterrechten in Deutschland machte für ihn Teile der Sozialdemokraten zu Bütteln Bismarcks. Auch diese in Zeitschriftenartikeln und Briefen geäußerten Positionen wurden später eine Fundgrube für kommunistische Bewegungen, ihre diktatorische Gewaltherrschaft mit Marx zu begründen.
Auch ethnische Fragestellungen werden der Geschichtsentwicklung unterstellt. Begrüßt wurden nationale Befreiungen in Italien, eine Wiederherstellung Polens wird als Schwächung der russischen Zarenherrschaft positiv gesehen. Auch der Ungarnaufstand von 1848/49 wurde unterstützt, während Marx und Engels sich über kroatische und tschechische wie slowakische Emanzipationsbestrebungen sehr zynisch mokierten. Beinahe lässt sich ein antislawischer Rassismus erkennen, den Engels erst in seinen späten Jahren abschwächte. Der Freiheitskampf von "Natiönchen" wurde lächerlich gemacht, ihnen - wenn revolutionär nötig - überhaupt ein Existenzrecht abgesprochen. Stalin ist schließlich nach diesem Grundsatz verfahren. Selbst dem heftig kritisierten zaristischen Russland schreibt Engels gegenüber den Tataren und Baschkiren eine zivilisatorische Leistung zu. Sprich: Engels verteidigt russischen Kolonialismus und Imperialismus alleine auf Basis eines von ihm unterstellten Bildungswesens.
Auf der anderen Seite haben Marx und auch Engels sich gegen die Auseinanderdividierung von Arbeitern auf Basis ethnischer Zugehörigkeit ausgesprochen. Eigentlich durchgehend wurden gleiche Rechte für die irische und schwarzafrikanische Arbeiterschaft eingefordert. Dass englische und in den USA weiße Arbeitskräfte mit Privilegien versehen waren, war ihnen ein Dorn im Auge, auch da es ein Leichtes sei, damit rassistischen Hass zu schüren.
Manche Prognosen sind spontan und erweisen sich als Hirngespinst, wenn auch interessant. Auf Basis des Goldbooms in Kalifornien prophezeit er ein neues globales Zentrum um den Pazifik (Kalifornien - China). Dies geschah nicht, scheint aber auf Basis des Silikon sich im 21. Jahrhundert zu verwirklichen.
Eine durchaus bemerkenswerte Einschätzung hat Marx bezüglich des Aufstiegs der tagesaktuellen Presse getätigt. Das Mehr an Informationen führe weniger zur Aufklärung über die Wirklichkeit, sondern fördere die Bildung von Mythen (Fake News würden wir heute sagen). Diese Einschätzung gilt auch heute noch: Das Internet ist nicht nur ein Hort der Aufklärung, sondern auch der Fake News und Verschwörungsmythen.
Eingestreut sind private und familiäre Informationen, die ich nun nicht referiere.
Insgesamt ein Werk eher von historischem Wert, als Einstieg in das Leben und Werk von Karl Marx ist dieser Text weniger geeignet.