Friedrich Schiller - Wilhelm TellEigentlich ist ja nur die Apfelgeschichte so richtig bekannt, dazu kommen noch die plattgewälzten Ein- und Zweizeiler, die in den Redewendungswortschatz übernommen sind, ohne dass man so richtig noch weiß, woher diese Sprüche kommen, aber dennoch oder vielleicht trotzdem steckt in diesem Stück viel mehr.
Es geht im ersten Aufzug schon los, dass Tell einen Mann vor den Schergen rettet, der einen Habsburgvogt mit er Axt erschlagen hat, da er in seiner Abwesenheit sich in sein Haus eingedrungen ist, sich nackt in die Wanne setzt und seine Frau vergewaltigen hat wollen. Mord? Notwehr?
Auch die Rache Tells an Geßler, der ihn wegen des nicht gegrüßten Huts den Apfel vom Kopf seines Sohns schießen lässt, als er aus dem Hinterhalt in der "hohlen Gasse" bei Küßnacht diesen mit einer Armbrust erschießt, lässt wieder fragen: Notwehr oder Rache? Schiller schwächt ab, da eine Frau, die vor Geßler kniet, um für die Freilassung ihres Mannes zu bitten, bedroht ist, von seinem Pferd zertrampelt zu werden.
Bereits früher erfahren wir, dass ein Vater geblendet worden ist, weil er nicht den Aufenthaltsort seines von der Obrigkeit verfolgten Sohns hat preisgeben wollen. Wir haben es also mit einem außer Rand und Band geratenen Terrorstaat zu tun, deren Schergen Subordinierte des Habsburger Königs Albrecht I. sind und freie Hand haben, die freien Bürger der Schweizer Kantone bis aufs Blut zu tratzen und den Freiheitsbrief König Rudolfs zu missachten, da Albrecht selbst diesen nicht mehr anerkannt hat. Völkerrechtsbruch würde heute gesagt werden.
Albrecht selbst wird 1308 von einem Neffen ermordet, der im letzten Aufzug bei Tell um Unterschlupf bittet, jedoch von diesem brüsk zurückgewiesen wird. Tell ist angeekelt von einem Familienmord aus "Ehrsucht" (Johannes Parricida fühlt sich um sein Königserbe betrogen), während er seine Tat als gerechte "Notwehr eines Vaters" betrachtet, der "Schrecklichste" vor seiner Familie abwendet.
In der letzten Szene spannt Schiller den Bogen der sagenhaften Schweizer Ereignisse zur Französischen Revolution. Der ehemalige Habsburg-Karrierist Freiherr von Rudenz wendet sich schwer enttäuscht von den Habsburgern ab, stellt sich gänzlich hinter die Ziele des Rütli-Schwurs und verlobt sich mit seiner schwerreichen adeligen Geliebten, die verkündet Bürgerin sein zu wollen. Rudenz selbst lässt seine Knechte frei. Adel und Unfreie werden gleiche Bürger. Damit beendet Schiller das Stück.
Dennoch ist es kein Hohelied auf kollektives politisches Handeln, Tell ist kein Mitglied des Rütlischwurs, sondern überzeugter Individualist. Und daran haben sich die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts die Zähne ausgebissen, als sie versucht haben, das Stück zu instrumentalisieren. Die Nazis haben es zunächst als nationales Befreiungsdrama mit Pomp und Trara in ihre Ideologie zu integrieren versucht, bis Hitler persönlich das Stück über den "Schweizer Heckenschützen" verboten hat. Die leninistisch-stalinistische Totalitarismusabteilung war auch nicht grade begeistert, aber einen Schiller zu verbieten, so lächerlich wollten die Genossen sich dann auch nicht machen.
Sprachlich ist der Blankvers (alle sprechen in fünfhebigen Jamben) eine Wucht. Es leiert nicht und wirkt nicht gestelzt. Außer vielleicht bei sattsam bekannten Redewendungen: "Die Axt im Haus ..." Darüber sei hinweggesehen.
Absolut lesenswert.
Online hier:
http://www.zeno.org/Literatur/M/Schiller,+Friedrich/Dramen/Wilhelm+Tell?hl=schiller+tellIch habe die Version der Erstausgabe (Umschlagbild) gelesen.