Franz Grillparzer - Der arme SpielmannDiese Novelle wurde 1848 veröffentlicht und hat als Hauptfigur einen 70-jährigen bettelnden Wiener Straßengeiger namens Jakob, dessen Lebensgeschichte von einem Mann erzählt wird, der ihn bei einem Kirchtag zu interessieren beginnt, da er eigentlich der Geige nur Kratztöne entlockt, jedoch in seinem Kopf die Musik alter Meister zu hören denkt.
Der Spielmann lebt im Dachgeschoß eines kleinen Häuschens im damaligen Wiener Vorort Brigittenau in Donaunähe und teilt mit zwei Handwerkern eine Dachkammer, deren Wohnbereiche durch einen Kreidestrich abgetrennt ist. Hervorgehoben wird die Sauberkeit des Alten (Kleidung wie Wohnraum) im Vergleich zu dem verdreckten Teil des Zimmers, den die Handwerker bewohnen.
Das Besondere an dieser Erzählung ist, dass ein herzensguter, aber lebensunfähiger, zauderlicher, nachdenklicher und ins Innere gekehrter Mensch im Mittelpunkt steht, dessen Lebensweg ihn aus einer behüteten Familie direkt ins Elend führt. Sein Vater ist hochrangiger und einflussreicher Ministerialbeamter, seine beiden Brüder rüde, so wird er auf Grund seines nach Innen gekehrten Charakters immer ängstlicher und von Versagensängsten geplagt, die sich schließlich erfüllen: er versagt bei einer Schulprüfung, zu der ihm die Fragen gesteckt sind, und als Schreiber im Ministerium gilt er als faul, da er immer wieder lange darüber brütet, ob er offensichtliche Fehler im Konzept stillschweigend ausbessern darf oder nicht.
Trost findet er in der Gesangsstimme Barbaras, einer sehr rabiat auftretenden Tochter eines Kuchenbäckers in Wohnnähe, der er sich ungeschickt annähert und in deren Geschäft er aushilft, nur um in ihrer Nähe zu sein. Die Ablehnung des Vaters ändert sich zweimal: Als er erfährt, wer der Vater ist, wird er unterwürfig, und nach dem Tod des Vaters will er seine Tochter mit ihm verkuppeln. Der Grund: die Erbschaft von 11.000 Gulden (heutzutage mit einem Kaufwert von etwa 150.000 Euro). Barbara äußert Jakob gegenüber sehr präzise, was dieser Betrag bedeutet: "Das ist viel und wenig, erwiderte sie. Viel, um etwas damit anzufangen; wenig, um vom Breiten zu zehren."
In seiner Naivität vertraut Jakob das Geld dem ehemaligen Sekretär seines Vaters an, um ein Schreibkontor zu eröffnen. Dieser brennt jedoch mit dem Geld durch, und Jakob hat keinerlei Quittungen. Er ist mittellos und ohne Familie: seine Eltern und sein jüngerer Bruder sind tot, sein älterer Bruder nach einem Schlaganfall schwerst behindert. Der Vater Barbaras wirft ihn raus, und Barbara heiratet einen Metzger. Für Jakob beginnt das Leben als bettelnder Straßenmusikant.
Die Novelle endet mit einem schweren Hochwasser in Wien (nachgebildet dem Eisstoß von 1930, der zu Überflutungen in der Brigittenau und der Leopoldstadt führte). Der alte Mann rettet Kinder aus den Fluten und für einen Nachbarn auch noch dessen Wertsachen aus einem Wandtresor. Dadurch erkrankt er schwer (wohl an Lungenentzündung) und verstirbt.
Der Erzähler besucht die Familie Barbaras, die zwei Kinder hat und auch schon eine ältere Dame ist, und würde ihr die Geige Jakobs abkaufen, was sie unter Tränen verweigert.
Die Novelle habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr gelesen, aber in ihrer Qualität übersteigt sie meine Erinnerungen. Es ist weniger das psychologische Intersesse, das Grillparzer hat, sondern die Schilderung einer Stadt, in der nicht nur Menschen, die nicht in der Lage sind, den Arbeitsmarkt zu bedienen, praktisch mittellos sind und unter elenden Bedingungen um ihr Überleben kämpfen, sondern auch Handwerker, die beruflich tätig sind: die zweite Hälfte des Zimmers teilen sich nämlich zwei Handwerksburschen.
Bekannt ist auch, dass nach dem Hochwasser von 1830 eine Cholera-Epidemie Wien heimsuchte. Bei den von Grillparzer geschilderten Verhältnissen wundert dies eigentlich nicht:
Der Anblick der Leopoldstadt war grauenhaft. In den Straßen zerbrochene Schiffe und Gerätschaften, in den Erdgeschossen zum Teil noch stehendes Wasser und schwimmende Habe. Als ich, dem Gedränge ausweichend, an ein zugelehntes Hoftor hintrat, gab dieses nach und zeigte im Torwege eine Reihe von Leichen, offenbar behufs der amtlichen Inspektion zusammengebracht und hingelegt; ja, im Innern der Gemächer waren noch hie und da, aufrecht stehend und an die Gitterfenster angekrallt, verunglückte Bewohner zu sehen,—es fehlte eben an Zeit und Beamten, die gerichtliche Konstatierung so vieler Todesfälle vorzunehmen.
Wie Grillparzer zur Idee kam, diese Novelle zu schreiben, erläuterte er selbst so:
Ich speiste viele Jahre hindurch im Gasthause "Zum Jägerhorn" in der Spiegelgasse. Da kam häufig ein armer Geiger und spielte auf. Er zeichnete sich durch eine auffällige Sauberkeit seines ärmlichen Anzuges aus und wirkte durch seine unbeholfenen Bewegungen rührend komisch. Wenn man ihn beschenkte, dankte er jedesmal mit irgendeiner kurzen lateinischen Phrase, was auf eine genossene Schulbildung und auf einstige bessere Verhältnisse des greisen Mannes schließen ließ. Plötzlich erschien er nicht mehr, und so eine lange Zeit nicht. Da kam die große Überschwemmung im Jahre 1830. Am meisten litt die Brigittenau, wo ein berühmter Kirchtag, ein lustiges Volksfest, jeden Sommer gefeiert wurde. Ich wusste, dass der arme Geiger dort wohnte, und da er nicht mehr aufspielen kam, so glaubte ich, dass auch er unter den Menschenopfern in der Brigittenau seinen Tod gefunden habe. Ich wurde eingeladen, für ein Taschenbuch eine Novelle zu schreiben, und so versuchte ich eine solche, in welcher mein armer, guter Bekannter als Held figuriert.
Text:
http://www.gutenberg.org/ebooks/8961Grillparzerzitat:
https://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/Novellen/grilparz.htmGulden-Euro-Kaufkraftschätzung:
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