Heinrich von Kleist - Das Erdbeben in ChiliImmer wieder habe ich diese Erzählung gelesen, und bei jeder neuen Lektüre komme ich nur zu einem Schluss: es ist die perfekte Erzählung.
Anhand einer gesellschaftlich nicht akzeptierten und dennoch verwirklichten Liebe sowie einer Naturkatastrophe wird das Menschsein bis in die letzten Winkel ausgeleuchtet.
- Da ist zunächst die illegitime Liebe zwischen einem Hauslehrer Jeronimo und seiner Schülerin Josephe. Als die Liebe auffliegt, wird sie in ein Kloster gesteckt. Sie finden sich dennoch, lieben sich, sie wird schwanger und bringt ihr Kind in einer Kathedrale zur Welt. Folge: sie wird zum Tode verurteilt, er landet im Gefängnis.
- Zum Zeitpunkt der Hinrichtung erschüttert die Stadt St. Jago ein heftiges Erdbeben. Jeronimo wollte sich soeben erhängen, nützt aber im Schock der Zerstörungen die Möglichkeit zur Flucht. Josephe entkommt im Chaos ihrer Hinrichtung und kann ihr Kind aus dem brennenden Kloster retten.
- Beide können aus der Stadt fliehen und finden sich in einer Schlucht außerhalb, in die sich viele Bewohner retten konnten. Dort entsteht spontan eine ideale, fast paradiesische Gesellschaft, in der sich alle gegenseitig helfen.
- Als zu einem Gottesdienst zur Verhinderung weiterer Naturkatastrophen in die nicht zerstörte Dominikanerkirche aufgerufen wird, machen sich auch die Menschen in der Schlucht auf den Weg dorthin.
- Der Gottesdienst entpuppt sich als Fanal, in dem das Erdbeben als Strafe Gottes wegen unzüchtiger Lebensweise gesehen wird. Jeronimo und Josephe sind die Schuldigen und sollen zu Tode gebracht werden. In einem Blutrausch werden diese beiden ermordet, aber auch die Frau und das kleine Kind ihres Freundes Fernando. Als die rasende Menge schließlich aufgrund ihrer Taten in Schockstarre verfällt, nimmt Fernando das Kind Jeronimos und Josephes an sich.
In dieser kurzen Novelle konfrontiert uns Kleist letztlich mit radikalsten Manifestationen menschlicher Gesellschaft, welche in der Naturkatastrophe ungefiltert an die Oberfläche treten:
- Ausgangspunkt ist eine streng hierarchische Gesellschaft mit rigiden Normen, welche individuelles Glück nicht nur ablehnt, sondern brutalst bestraft, wenn sie den moralischen Prinzipien widersprechen.
- Die Naturkatastrophe bildet eine Gesellschaft, welche innerhalb kürzester Zeit sich in einer mitfühlenden, solidarischen Gemeinschaft sich realisiert.
- Diese jedoch ist nicht von Bestand. Sie trifft auf einen rasenden, sich gegenseitig aufhetzenden mörderischen Mob, welche die letzte Kruste an Zivilisation ablegt und blindwütig mordet.
Die Erzählung hinterlässt uns jedoch nicht im Nihilismus, sondern mit der Adoption des Kindes durch den schicksalsgebeutelten Fernando bleibt ein Hoffnungsschimmer am Horizont.
Dieser kurze Text ist so dermaßen dicht geschrieben, dass sich auch die Frage nach der Theodizee, der Gerechtigkeit Gottes stellt. Der rasende fundamentalistische Mob sieht im Erdbeben eine Strafe Gottes, doch gerade diejenigen, welche als Verursacher dieser Strafe gesehen werden, werden durch das Erdbeben gerettet. Doch! Nur kurz. Sie werden erschlagen.
Es gibt keine eindeutige Aussage dieses Textes, keine eindeutige Entscheidung. Jeder neue Lesevorgang eröffnet neue Sichtweisen. Und das seit 200 Jahren.
Kleists Erzählungen online:
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