Rüdiger Safranski - Goethe. Kunstwerk des LebensDa ich Goethe sehr schätze, habe ich mir diese Biografie reingezogen und war sehr positiv angetan: kein Lehrwerk für Schule oder Uni, sondern eine sehr persönlich gehaltene Lebensbeschreibung eines Mannes, der sehr viel in seinem Leben geschrieben hat und dessen Persönliches daher beinahe offener daliegt als bei modernen Facebook-Selbstdarstellern.
Dass Goethe aus einem reichen Juristenhaus stammte, ist vermutlich bekannt: bereits als sechzehnjähriger Student erhielt er monatliche Zuwendungen in der Höhe eines Jahreseinkommens eines Handwerkmeisters.
Sprachlich hochbegabt schrieb er mit 25 Jahren den Welterfolg
Werther und wurde vom Weimarer Herzog Carl August an seinen Hof geladen, was Goethe annahm.
Zuerst widmete er sich dem High Life, um schließlich als Staatsangestellter sich dem Bergbau in Ilmenau zuzuwenden. Erst mit seiner Reise nach Italien in seinen späten 30ern rang er Carl August völlige Freiheit ab, sich wieder der Kunst und Literatur widmen zu können - bei einer sehr hohen finanziellen Zuwendung. Den letzten Kick erhielt er durch seine Freundschaft mit Schiller.
In Rom zeichnete ihn Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (der mit dem berühmten Gemälde). Sehr cool ... im
Spoiler
Ok ... nun auch das berühmte Gemälde ... mit Andy Warhol davor ;)
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Das klingt nicht aufregend, aber was ist so speziell an diesem Begünsteten und Günstling? Neben seiner Sprachbeherrschung sicherlich seine Extravaganz und seine Ich-Bezogenheit, die er auch auf sein Literatur- und Kunstverständnis übertrug. Das Individuum zählt (also er selbst).
So ist auch seine Schreibweise. Er fängt was an, lässt es liegen (zum Teil für Jahrzehnte) und ohne Plan beendet er seine Werke. Literatur (und auch der Mensch) hat sich aus dem Leben, aus der "Natur" zu bilden. Schiller war sein alter ego: Leben und Literatur hat einem Plan, einer Idee zu folgen. Und weil sie so konträr waren, konnten sich die beiden gut leiden. So die These Safranskis.
Dieser Individualismus ließ Goethe mehr oder weniger jegliche politische Idee ablehnen, auf Grundlage derer sich Menschen zusammenschlossen.
Die Französische Revolution war ihm ein Gräuel, Napoleon jedoch ein geschätzter Mensch (auch wenn franzöisische Truppen in Weimar ihn fast umbrachten). Die deutsche Resistance gegen Napoleon lehnte er ab, weil er mit Nationalismen und Patriotismen nichts anfangen konnte:
Wenn aber die Menschen über ein Ganzes jammern, das verloren sein soll, das denn doch in Deutschland kein Mensch sein Lebtag gesehen, noch viel weniger sich darum bekümmert hat; so muß ich meine Ungeduld verbergen, um nicht unhöflich zu werden.
Das klingt ignorant, aber wenn die folgenden Zeilen gelesen werden, so scheint er bereits totalitäre Massenparteien und deren Gewaltpotenzial zu erahnen:
Wie man denn niemals mehr von Freiheit reden hört, als wenn eine Partei die andere unterjochen will und es auf weiter nichts angesehen ist, als daß Gewalt, Einfluß und Vermögen aus einer Hand in die andere gehen sollen.
Massenparteien sind ihm suspekt, gegen seinen Sohn August, der sich der anti-napoleonischen Opposition anschließt, intigriert er, sodass dieser nicht aufs Kampffeld muss. August ist stocksauer, endet schließlich im Suff und stirbt in Rom an Hirnhautentzündung.
Seine Ablehnung von Massenorganisationen geht schließlich so weit, dass Goethe als 70jähriger die Zensurmaßnahmen der Karlsbader Beschlüsse begrüßt.
Letztlich könnte man meinen, der alte Mann ist gaga geworden, wenn da nicht der zweite Teil der
Faust wäre, in dem Goethe in seinen Lebensjahren ab 70 bis zum Tode die Moderne dekonstruiert, bevor sie überhaupt begonnen hat:
- Papiergeld wird erschaffen aus Versprechen zukünftiger Wertschöpfung
- Kaufrausch und damit Inflation wird angekurbelt
- Helena als Idealbild ist ein mediales Kunstwerk (Hollywood grüßt)
- Kapitalistische Herrschaft geht über Leichen (Philemon und Baucis)
Besonders die brutale Ermordung von Philemon und Baucis weist in eine Richtung, die im 20. Jahrhundert Realität wurde: aus wirtschaftlichen und ideologischen Gründen werden Menschen aus em Weg geräumt. Ausgelöscht.
Der Poet Goethe, der Sinngebung für das menschliche Leben ablehnte und nur Lebensfreude und Tätigkeit im Augenblick, im Jetzt als bereichernd ansah, wurde zum Propheten einer modernen Dystopie. Mit einer Sprache, die nie wieder sein wird.
Noch bedrückender wird es in
Wilhelm Meisters Wanderjahre, als Wilhelm mit seinem Sohn zu einem Landgut eines Onkels kommt und dieses in Erfahrung bringt:
„Sie werden diesen und andere Sprüche, in denen er sich bespiegelt, in den Feldern über den Türen eingeschrieben sehen, wie wir hier z. B. gleich antreffen: ‚Vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen’.“
Sinnsprüche an Toren zu lagerartigen Landgütern. Erschaudernd.
Dabei war Goethe auch ein sehr kindischer Mensch, ein Graffitikünstler, der andauernd irgendwo Texte eingeritzt hat (in Möbel anderer Leute, in Bäume).
Sein berühmtestes Graffiti ist in einer Hütte am Kicklhahn bei Ilmenau:
Original anzeigen (0,3 MB)Und es lautet:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Besser geht's nicht.
Infos zum Buch im
Spoiler
Verlagsinfo:
http://www.hanser-literaturverlage.de/buch/goethe-kunstwerk-des-lebens/978-3-446-23581-6/
Der Autor: Wikipedia: Rüdiger Safranski
Rezensionen:
http://www.zeit.de/2013/36/literatur-sachbuch-biografie-goethe-ruediger-safranski
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/sahra-wagenknecht-liest-safranski-goethe-sah-die-gefahren-einer-durchkommerzialisierten-gesellschaft-vor-marx-12635571.html
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/ruediger-safranski-goethe-der-urbanisierte-olympier-12553528.html
http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article119444722/Ein-Goethe-fuer-die-ganz-Nervoesen.html
http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur/ruediger-safranskis-phantastische-goethe-biografie-1.18205770 (Archiv-Version vom 20.12.2013)