Der lange Weg einer Berlinerin aus der Todeszelle
Die in Berlin geborene Debra Milke saß in den USA seit 1989 im Gefängnis. Jetzt könnte sie endgültig freikommen. Denn der neue Prozess gegen sie scheint zu platzen, bevor er beginnt.
Von Ansgar Graw
Da, wo sich 1989 noch die Steinwüste Arizonas erstreckte, knapp zehn Meilen nördlich der Hauptstadt Phoenix, ist inzwischen ein Einkaufszentrum aus dem Boden gestampft worden. Die Natur rund um die Happy Valley Road hat das nicht wirklich gezähmt. Große Kakteen unterbrechen die Monotonie der kargen Landschaft.
Klapperschlangen und Skorpione gibt es hier weiterhin, sagt Galena, eine Mittvierzigerin aus Mexiko, die in einem Fastfood-Restaurant des Einkaufszentrums arbeitet. Darum gehe sie auch außerhalb des großen Parkplatzes nicht spazieren. Und, nein, das gut zweieinhalb Meter hohe Kreuz aus weißem Metall hat sie noch gar nicht entdeckt, das zwischen Büschen in dem nahen, zumeist trockenen Bachlauf errichtet wurde. Sie weiß auch nicht, dass dies der Tatort eines furchtbaren Verbrechens ist. Ein Kind wurde erschossen? Ein vierjähriger Junge? Hier? Warum?
Die Tat vom Dezember 1989 ist im Bewusstsein vieler Deutscher möglicherweise präsenter als in der Erinnerung der Amerikaner. Denn die Mutter des ermordeten Christopher, die heute 49 Jahre alte Debra Milke, ist gebürtige Berlinerin. Milke wurde als angebliche Drahtzieherin der Tat zum Tode verurteilt. Mehr als 22 Jahre lang saß sie in der Todeszelle.
Zeuge will Aussage im Fall Milke verweigern
Jetzt aber steuert der Fall auf eine sensationelle Wende zu. Milke könnte sehr bald als unschuldig rehabilitiert werden. Das Berufungsgericht hat im März einen neuen Prozess angeordnet. Und der einzige Belastungszeuge von damals, der Ermittler Armando Saldate, dessen Glaubwürdigkeit inzwischen stark angezweifelt wird, will nicht mehr aussagen. Das lässt die Anklage, die allein auf Saldate gebaut hatte, nackt dastehen. Der neue Prozess scheint zu platzen, bevor er beginnt. Damit käme Milke, die im September gegen eine Kaution von 250.000 Dollar und mit einer elektronischen Fußfessel aus dem Gefängnis entlassen wurde, endgültig frei.
"Ja", sagte am Freitagnachmittag Saldate auf die entscheidende Frage von Richterin Rosa Mroz im Superior Court, dem Oberlandesgericht in Phoenix. Mroz wollte wissen, ob Saldate wie zuvor angekündigt von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen wolle. Der fünfte Verfassungszusatz räumt diese Möglichkeit jedem ein, der durch eine Aussage vor Gericht sich selbst belasten könnte. Saldate drohen Schadenersatzklagen aus vielen Verfahren, sollte das Gericht eine Aussage von ihm als Lüge zurückweisen.
Kaum zwei Dutzend Zuschauer haben den Weg gefunden in den Saal 7D, in dem das Verfahren stattfand. Manche von ihnen sind Journalisten aus Deutschland und den USA, andere kämpfen in dem rührigen Unterstützerkreis von Milke seit Jahren für ihre Freilassung. Debra Milke sitzt neben ihren beiden Anwälten. Weißhaarig ist sie geworden in den fast zweieinhalb Jahrzehnten, die seit dem Tod ihres kleinen Jungen vergangen sind.
Mord wegen 5000 Dollar aus einer Lebensversicherung?
Konzentriert verfolgt sie die Anhörung, als Richterin Mroz den Mann befragt, dessen Aussage sie 1989 hinter Gitter brachte und dessen Schweigen sie nun befreien kann. Damals behauptete Saldate, ihm gegenüber habe sie in einem Verhör gestanden, zwei Männer beauftragt zu haben, ihren Sohn zu töten – wegen 5000 Dollar aus einer Lebensversicherung.
Debra Milke war 1964 in Lichterfelde als Tochter eines Amerikaners und einer Deutschen geboren worden, ein Jahr später zog die Familie in die USA. Mit 19 Jahren lernte sie in Phoenix Mark Milke kennen. Eine schwierige Beziehung, denn Mark war schwer alkohol- und drogenabhängig. Trotzdem heiratete sie ihn 1984. Ein Jahr später kam ihr Sohn Christopher zur Welt.
Mark Milke saß in den folgenden Jahren mehrfach im Gefängnis. 1988 ließ sich Debra schließlich scheiden, setzte das alleinige Sorgerecht für Christopher durch und zog im August 1989 mit dem Jungen bei einem Bekannten ihrer Schwester, Jim Styers, als Untermieterin ein. Im November sagte sie Styers, sie habe für sich und Christopher eine eigene Wohnung in der Nähe ihrer Stelle bei einer Versicherungsagentur gefunden, im Januar wollte sie ausziehen.
Es schien aufwärtszugehen - doch es kam anders
Es schien aufwärtszugehen. Doch es kam anders. Am 2. Dezember erklärte sich Styers bereit, Christopher mit in ein nahes Einkaufszentrum zu nehmen, wo Santa Claus für Fotos mit Kindern posierte. Ein gemeinsamer Bekannter, Roger Scott, begleitete die beiden. Stunden später alarmierte Styers den Sicherheitsdienst im Einkaufszentrum. Er sei auf die Toilette gegangen, habe Christopher vor der Tür warten lassen, und als er zurückkam, sei der Kleine verschwunden gewesen. Die Polizei suchte nach dem Jungen, misstraute aber der Geschichte von Styers und Scott.
Nach wenigen Stunden brach Scott zusammen. Er fuhr mit den Polizisten zur Happy Valley Road und zeigte ihnen die Leiche des Jungen. Christopher starb durch drei Kopfschüsse. Er sei nur der Fahrer gewesen, behauptete Styers, die Schüsse habe Scott abgegeben. Und dann erzählte er, Debra Milke habe die beiden Männer zu dem Mord überredet, weil sie das Geld für die Lebensversicherung für Christopher wollte.
Eineinhalb Tage nach der Tat vernahm der Polizeikommissar Saldate Debra Milke. Zeugen des angeblichen Geständnisses gibt es nicht. Auch keine Tonbandaufzeichnung und kein unterschriebenes Protokoll. Selbst seine ursprünglichen Notizen will Saldate nach Ausfertigung seines Berichtes weggeworfen haben.
Polizist Saldate log mehrfach unter Eid
Aber die Jury glaubte den Worten des Polizisten und nicht den Unschuldsbeteuerungen der damals 25 Jahre alten Mutter, gerade geschieden von einem alkoholkranken Junkie, der mehrfach im Gefängnis saß. Debra Milke wurde 1990 wegen Anstiftung zum Mord schuldig gesprochen, 1991 zum Tode verurteilt.
Dass Saldate, dem gegenüber Milke gestanden haben soll, eine mehr als zweifelhafte Persönlichkeit ist, sickerte erst viele Jahre nach dem Prozess durch. So zwang er eine Autofahrerin zu sexuellen Handlungen mit dem Versprechen, sie dann nicht für ein Verkehrsdelikt zu belangen. Zunächst bestritt er den Vorwurf, bis ihn ein Lügendetektortest überführte und er die Tat gestand. Mehrfach log Saldate unter Eid, und es sind mindestens sieben Fälle bekannt, in denen er Rechte der Angeklagten grob missachtete.
Dass der Verteidigung die Akten zu diesem Fehlverhalten des Polizisten, der nur durch seinen vorzeitigen Ruhestand einem Entlassungsverfahren entging, nicht vorgelegt wurden, verletzte nach Ansicht des Bundesberufungsgerichts Debra Milkes Rechte. Deswegen wurde der Staat Arizona im März zur Wiederaufnahme des Verfahrens verpflichtet.
Rückzugsgefecht der Anklage
Als Milke im September unter Auflagen das Gefängnis verlassen durfte, kündigte die Staatsanwaltschaft an, erneut die Todesstrafe gegen sie zu beantragen. Sie setze weiter auf die Aussage Saldates. Doch das wirkte bereits wie ein verzweifeltes Rückzugsgefecht einer Anklagebehörde, die allzu schlampig vorgegangen war.
Für Debra Milke hat schon jetzt ein neues Leben begonnen. Seit September lebt sie bei Freunden, erstmals seit vielen Jahren ohne Ketten in eigenen Kleidern. "Doch am faszinierendsten fand sie die heutige Technologie: Sie staunte über iPads, iPhones, Touchscreens, die Vernetzung der Geräte", erzählte ihre Anwältin Lori Voepel. Und sie konnte erstmals nach so vielen Jahren ihre Mutter in die Arme schließen.
Möglicherweise schon am Mittwochabend könnte Mroz dem Ersuchen von Saldate stattgeben, vom Verfahren ausgenommen zu werden – und wegen des Mangels an Beweisen den Prozess ganz absagen. Dann ist mit dem formellen Einspruch der Staatsanwälte zu rechnen. Darüber muss das Berufungsgericht entscheiden. Das kann sich noch einige Wochen hinziehen. Doch die Aussicht ist gering, dass Milke, für deren Freilassung Altbundespräsident Richard von Weizsäcker, TV-Entertainer Günther Jauch und Schauspielerin Uschi Glas eingetreten waren, wieder ins Gefängnis oder gar in die Todeszelle muss.
Musste Christopher sterben, weil sich jemand an ihm vergangen hatte?
Was aber geschah nun wirklich an jenem 2. Dezember? "Wenn ein Kind getötet wird, spricht schon die Statistik dafür, dass eine Sexualstraftat vertuscht werden sollte", sagt der Privatdetektiv und investigative Journalist Paul Huebl aus Phoenix, der am Fall Milke vom ersten Tag an gearbeitet hat. Huebl glaubt, dass der kleine Christopher sterben musste, weil sich zumindest einer der beiden Mörder an ihm vergangen hatte. Styers und Scott wurden ebenfalls zum Tode verurteilt und warten auf ihre Hinrichtung. Während Scott die Tat gestand, behauptet Styers, er sei ebenso unschuldig wie Debra Milke.
Am Rande der Wüste von Arizona mahnt weiter ein unscheinbares Kreuz an ein mitleidloses Verbrechen. Eine Micky Maus und ein Plastik-Dino stehen darunter. Es waren Christophers Lieblingsspielzeuge.
http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article122946656/Der-lange-Weg-einer-Berlinerin-aus-der-Todeszelle.html