Gibt wieder etwas "Neues"
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Fall Trudel UlmenWie böse Gerüchte neue Wahrheiten schaffenVon Wolfgang Kaes
Bonn/Region. Die Asche der Getöteten wurde am vergangenen Freitag in ihrer Heimatstadt Mayen beigesetzt.
Trudel Ulmen wurde vor 16 Jahren getötet.
Vor diesem Foto zündete die heute 84-jährige Liesel Lenerz 16 Jahre lang Tag für Tag eine Kerze an. Sie wird dies auch weiter tun. Am Freitag wurde die Urne mit Trudel Ulmens Asche in Mayen beigesetzt. Repro: GA
Die Freiheit der Presse ist ein hoch geschätztes Gut unserer Demokratie. Sie fußt auf den bitteren Erfahrungen in der NS-Diktatur und dem im Grundgesetz verbrieften Recht der freien Meinungsäußerung. Die Meinung ist frei - nicht aber das Aufstellen falscher Tatsachenbehauptungen. Das ist sogar eine Straftat, wenn damit Menschen geschädigt werden. Deshalb unterliegt die Freiheit der Presse besonderen Regeln: den Pressegesetzen der Bundesländer, aber auch dem Ehrenkodex des Deutschen Presserats, einem Gremium der freiwilligen Selbstkontrolle.
Im Schatten dieses Nachrichtenmarktes existiert ein florierender Schwarzmarkt, der keinerlei Kontrollen unterworfen ist: die Gerüchteküche. Auf diesem Markt der Neuigkeiten lässt sich in der Regel kein materieller Gewinn, aber ein hoher emotionaler Nutzwert erwirtschaften.
Geeignete Umschlagplätze für die leicht verderbliche Ware finden sich zuhauf, ganz besonders in ereignisarmen Kleinstädten: der Stammtisch, die Bäckerei, der Friseurladen, das Büro. Bestätigt ein Gerücht die latent vorhandenen eigenen Sehnsüchte, Ängste oder Hoffnungen, fällt es auf besonders nahrhaften Boden.
Gerüchte bedienen das Bedürfnis nach sozialer Nähe: Durch gemeinsam erlebte Emotionen wie Neid, Schadenfreude oder moralische Entrüstung wird das wohlige Gefühl gestärkt, zur Gemeinschaft zu gehören. Je höher der Sensationsgrad, desto schneller verbreitet sich das Gerücht. Ganz oben im Ranking der Sensationen stehen Gerüchte mit sexuellem Hintergrund. Völlig nebensächlich sind hingegen Quelle und Wahrheitsgehalt des Gerüchts.
In der Kleinstadt Rheinbach kursieren derzeit eine Menge frisch aufgewärmter Gerüchte, die 16 Jahre alte Wurzeln haben.
Ein Beispiel: Auch wenn dank der erfolgreichen Arbeit der Bonner Mordkommission alle Welt inzwischen weiß, dass die Arzthelferin Trudel Ulmen im März 1996 keineswegs mit einem reichen portugiesischen Liebhaber ins Ausland durchbrannte, halten sich bis heute hartnäckig die Gerüchte um ihre Schwangerschaft gegen Ende des Jahres 1995 und die anschließende Fehlgeburt: Das Kind sei von ihrem Liebhaber gewesen, und deshalb habe sie es abtreiben lassen.
Auch dieses Gerücht ist wie viele andere nachweislich die Unwahrheit: Das Bonner Malteser-Krankenhaus mit seinem katholischen Träger unternimmt keine Abtreibungen, aus der Krankenakte der Klinik geht zweifelsfrei hervor, dass es sich um eine tragische Fehlgeburt handelte, und inzwischen beweist ein DNA-Abgleich, dass der Vater des Kindes eindeutig der Ehemann war.
Für die Angehörigen des Opfers in der Kleinstadt Mayen, 52 Kilometer südlich von Rheinbach, war und ist dies die zusätzliche Tragödie: der an der Toten nachträglich verübte Rufmord. Trudel Ulmens streng katholische Mutter Liesel Lenerz wurde schon 1996 zum Verstummen gebracht, indem man ihr versicherte, dass ein beharrliches Nachfragen bei der Polizei nur dazu führe, dass die außerehelichen Affären ihrer Tochter an die Öffentlichkeit drängen und damit der Name der Familie Lenerz in den Schmutz gezogen würde.
Vergangenen Freitagnachmittag wurde die Urne mit der Asche im Grab des Vaters beigesetzt. In aller Stille, im engsten Familienkreis, auf dem Mayener Friedhof in der Nähe des Ostbahnhofs, nur wenige Fußminuten von der schlichten Bahnarbeitersiedlung entfernt, in der Gertrud Gabriele Lenerz aufgewachsen war. Der Lokomotivführer, der schon zum Zeitpunkt von Trudels Verschwinden unter einem Gehirntumor litt, starb 2003 in Ungewissheit über das Schicksal seiner geliebten Tochter.
Auf dem gemeinsamen Grabstein steht unter dem Namen des Vaters nur "Trudel". Kein Nachname. Darunter das Geburtsdatum 29. Januar 1955 und das Todesdatum 20. März 1996.
Für den Ritus der Beisetzung reiste am Freitag der Pfarrer der 34 Kilometer entfernten Stadt Neuwied an. Thomas Darscheid war einst Nachbarskind in der Bahnarbeitersiedlung, bevor er seine Heimat nach dem Abitur verließ, um Katholische Theologie und Philosophie zu studieren und Priester zu werden.
Aber nicht nur der Umstand, dass der Neuwieder Pfarrer die Tote als Kind gut kannte, veranlasste die Familie, Thomas Darscheid und nicht den Mayener Pfarrer um diesen Akt der Nächstenliebe zu bitten: In den ersten Wochen nach der schrecklichen Nachricht besuchten der zuständige örtliche Pfarrer und sein Diakon insgesamt dreimal die ebenfalls in Mayen lebende, aus einer angesehenen Unternehmerfamilie stammende Mutter des Tatverdächtigen, um ihr seelsorgerischen Beistand zu leisten - aber kein einziges Mal die 84-jährige Mutter des Opfers.
"Es wäre ein zweiter Triumph für den Mörder, wenn wir Trudel nicht als den wunderbaren Menschen in Erinnerung behalten, der sie war", sagte der Neuwieder Pfarrer Darscheid während der Zeremonie.
Zahlreiche Menschen auch aus Rheinbach und aus dem Siebengebirge haben in den vergangenen Wochen in bewegenden Briefen an die Familie Lenerz ihre Anteilnahme zum Ausdruck gebracht. Auch die Mayener Oberbürgermeisterin Veronika Fischer schrieb an Thomas Lenerz, ihren Mitarbeiter im Jugend- und Sportamt der Stadtverwaltung - nur zwei Wochen, bevor die 47-jährige Politikerin durch Suizid aus dem Leben schied: "Mit großer Bestürzung habe ich vom schrecklichen Tod Ihrer Schwester erfahren ... Wenn dies auf so grausame und unfassbare Weise geschieht, bedeutet das für die Hinterbliebenen unsägliches Leid ... Es liegen 16 lange und schwere Jahre der Ungewissheit hinter Ihnen. Nun können Sie Abschied nehmen und ich denke, dass darin bei allem Schmerz auch ein Trost liegt."
Vor einigen Tagen zeigte das Kölner Artheater am Ehrenfeldgürtel das preisgekrönte Drama "Der Kissenmann". Darin gibt es eine Szene, die kein Zuschauer so schnell vergisst: Der Protagonist erstickt seinen Bruder mit einem Kissen. Der irische Dramatiker Martin McDonagh begrenzte die Erstickung auf 50 Sekunden - für die Zuschauer schon eine unerträgliche Ewigkeit. Mehr wäre dem Publikum einfach nicht zuzumuten.
Darüber kann Axel Petermann, einer der dienstältesten Profiler Deutschlands, nur den Kopf schütteln. "Das Ersticken mit einem Kissen dauert mehrere Minuten", sagt der Leiter der Abteilung Operative Fallanalyse bei der Bremer Kripo, der in seinem bislang 42-jährigen Berufsleben als Polizist zu weit mehr als 1000 Todesermittlungen gerufen wurde.
Auch wenn das Opfer weiblich, klein und zierlich sei, der Täter hingegen männlich, groß und stark, entwickle das Opfer im Angesicht des Todes übermenschliche Kräfte. "Irgendwann wird das Opfer zwar bewusstlos, aber der Kampf des Körpers gegen den Tod geht weiter. Mit Eintritt der Bewusstlosigkeit beginnen automatisch die konvulsivischen Spasmen, die den ganzen Körper zucken und verkrampfen lassen, wieder abebben, nach 30 Sekunden erneut einsetzen und wieder nachlassen. Acht- bis zehn Mal geschieht dies periodisch, bis der Mensch tot ist. Hört der Täter vorzeitig auf, erwacht das Opfer aus der Bewusstlosigkeit."
Axel Petermann will sich nicht zum konkreten Fall Ulmen äußern, weil er den Fall nicht hinreichend kenne. Aber die Muster, die dem erfahrenen Profiler und Spezialisten für "Cold Cases" (lange unaufgeklärte Fälle) im Laufe seiner Arbeit begegnet sind, verblüffen: "Der überwiegende Teil aller Tötungen sind Beziehungstaten. Der überwiegende Teil dieser Täter ist zuvor noch nie polizeilich in Erscheinung getreten. Männer töten ihre Frauen und nicht umgekehrt. Ausnahmen bestätigen die Regel. Wenn Frauen ihre Männer töten, dann nur, weil sie kein anderes Mittel sehen, um sich aus einer gescheiterten Beziehung zu befreien. Männer hingegen töten ihre Frauen, weil sie ein Scheitern der Beziehung nicht akzeptieren wollen. Hatte die Frau denn Trennungsabsichten?"
Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass sie unter den außerehelichen Affären ihres Mannes litt, und wir wissen von ihrem Arbeitgeber, dass sie kurzfristig für den 21. März 1996 den Dienst tauschte. Was aber hatte sie an dem freien Donnerstagmorgen vor? Gibt es einen banalen Grund? Oder hatte sie einen Termin bei einem Anwalt oder einem Wohnungsmakler? Führte das Thema Trennung zum tödlichen Streit?
Petermann: "Wenn Täter stark narzisstisch veranlagt sind und die Frau sagt, es ist aus und vorbei, bedeutet das eine tiefe, unentschuldbare Kränkung. Das Phänomen beobachten wir auch bei Stalkern. Durch die Kränkung verliert das Opfer aus Sicht des Täters das Recht auf ein glückliches Leben." Und das Alibi? "Täter, die ihre Tat nicht von langer Hand geplant haben, müssen blitzschnell improvisieren. Wenn sich der Täter im konstruierten Alibi nicht vom Tatort entfernen kann, dann muss eben das Opfer in zweifacher Hinsicht verschwinden. Die Geschichte vom potenten Liebhaber und dem Anruf aus dem Ausland ist nicht gerade neu."
Wie kann man 16 Jahre am Ort eines tödlichen Verbrechens wohnen? Petermann: "Häufig wird sehr schnell eine neue Beziehung eingegangen, das Haus in aller Eile von persönlichen Gegenständen befreit, gestrichen, renoviert, vielleicht umgebaut, um die eigene Erinnerung zu verwischen."
Tatsächlich wurde die persönliche Habe der "Vermissten" bereits nach wenigen Tagen säckeweise aus dem Eigenheim am Rheinbacher KAB-Ring getragen, der Scheidungsantrag nach wenigen Monaten gestellt, das Haus im Folgejahr 1997 sowie erneut im Jahr 2000 für rund 98.000 Euro ausgebaut.
Warum wird das Opfer schlechter geredet, als es für die Legende nötig wäre? "Auch dies ist nicht selten: Je mehr Details, desto glaubwürdiger klingt das Alibi. Außerdem kann es zur Gewissenberuhigung beitragen, nach dem schrecklichen, herabwürdigenden Motto: Das Miststück hat es nicht besser verdient."
Der wertvolle Schmuck, den Trudel Ulmen nach damaliger Aussage des Ehemanns mit ins Ausland genommen habe, wurde in Wahrheit verkauft. War das nicht ein großes Risiko? "Natürlich. Aber der kleinbürgerlichen Krämerseele im Nachgang einer Tötung begegnen wir bei Ermittlungen immer wieder."
Weiß man als Kriminalist nach mehr als 1000 Todesermittlungen, wie das Böse in die Welt kommt und das Gute verdrängt? Petermann schüttelt den Kopf: "Nein. Ich weiß es nicht. Jeder Mensch trägt Gutes und Böses in sich. Ich halte mich an einen Satz, der weder philosophischen noch pädagogischen Tiefgang besitzt: "Das Gute ist, dass das, was das Böse ist, im Strafgesetzbuch steht."
Axel Petermann
Axel Petermann, Jahrgang 1952, seit 42 Jahren Polizist, war bislang in mehr als 1000 Todesermittlungen eingeschaltet. Als Leiter der Bremer Mordkommission war er einer der ersten Kriminalisten Deutschlands, der sich intensiv, aber auch kritisch mit den Profiling-Methoden der US- Bundespolizei FBI auseinandersetzte. Petermann ist Gründer (1999) und Leiter der Abteilung Operative Fallanalyse der Bremer Kripo. Der Schlüssel zur Aufklärung liegt für ihn neben der Auswertung der Tatort-Spuren vor allem im Studium der Opferpersönlichkeit, die ihn zum Täter führt. Petermann bildet als Hochschul-Dozent angehende Kriminalbeamte aus und berät ARD-Tatort-Produktionen. Sein Buch "Auf der Spur des Bösen" (Ullstein, 2010) stand lange auf den deutschen Sachbuch-Bestsellerlisten. Kürzlich ist sein zweites Buch "Im Angesicht des Bösen" (Kindler, 2012) erschienen.
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Quelle:
http://www.general-anzeiger-bonn.de/lokales/region/Wie-boese-Geruechte-neue-Wahrheiten-schaffen-article767518.html