Der Fall Tanja Mühlinghaus
24.10.2014 um 08:00
Da ich sehe, dass dieser thread wieder von seriösen Leuten gelesen wird, möchte ich einmal eine Idee einstellen, die mir beim Durchlesen der bekannten Daten über den Fall gekommen ist. Ich habe mich bisher nie zu dem Fall geäussert und kenne auch keinen Beteiligten selbst, aber finde den Fall sehr interessant. Berufs- und Lebenserfahrung zeigen mir, dass es für die meisten Dinge, die zunächst unerklärlich sind, Erklärungen gibt, und meistens ist es diejenige, die am wenigsten spektakulär ist. Ich habe eine Idee zur Rolle der Briefe, die bisher m.W. so noch nie aufgetaucht ist.
Die Briefe sind ja das Ungewöhnliche an diesem Fall. Leider gibt es viele Fälle, in welchen junge Frauen und Mädchen verschwinden, wo niemals mehr auch nur eine Spur gesehen wird, oder, wo man am Ende nur eine Leiche findet. Fälle mit scheinbarem Kontakt der Verschwundenen nach dem Verschwinden gibt es m.W. nur zwei oder drei: der bekannte Liebs Fall und dieser hier.
Nun haben hier schon viele versucht, aus den Briefen irgendeinen Sinn herauszulesen. Bekannt ist, dass die Polizei davon ausgeht, dass Tanja sie geschrieben hat, und dass mindestens eine weitere unbekannte Person beteiligt ist (DNA Briefmarke). Bekannt ist auch, dass die Mutter meinte, die Briefe klingen irgendwie nicht selbst verfasst, eventuell diktiert. Niemals wurde offiziell behauptet, dass irgendetwas an dem Inhalt der Briefe falsch sei (es gab keine Hasen, keine bestellten Sachen etc.) Daher gehe ich mal davon aus, dass der Inhalt an sich keinerlei "geheime" Hinweise etc. enthält.
Nun die Frage: wozu die Briefe? Hier wurde oft an das Naheliegende gedacht: sie sollen die Eltern von einer frühzeitigen Kontaktaufnahme zur Polizei und von einer frühen Suche abhalten.
Jetzt aber mal gefragt: wie realistisch ist das denn, dass sie nicht sofort beginnen zu suchen? Und, warum sollte der Täter für einen sehr zweifelhaften Erfolg, sich eines grossen Risikos aussetzen?
Erklärung: Wenn eine meiner Töchter unerwartet verschwinden würde und ich am nächsten Tag einen solchen Brief erhalten würde, in welchem die absolut zentrale Information fehlt, die mich als Vater beschäftigt, nämlich wo sie ist, dann würden bei mir alle Alarmglocken klingeln und ich würde mich sofort auf die Suche machen. Da kann meine Tochter zehn mal schreiben, dass ich nicht suchen brauche etc. Ich denke, alle hier würden genauso handeln. Ein abgebrühter Entführer weiss das wohl auch. Aber ein 15 jähriger teenager, dem kann man vielleicht etwas vormachen.
Dazu kommt: der Wahrscheinlichkeit, mit diesen Briefen also nichts zu erreichen, was dem Täter einen echten Vorsprung verschafft, steht aber eine Reihe von Nachteilen zu Lasten des Täters gegenüber: man kann nachvollziehen, wo die Briefe aufgegeben wurden, und daher zumindest einen Ansatzpunkt zur Suche haben. In anderen Worten: anstatt in Münster, im Sauerland, in Frankfurt oder sonstwo, ist es extrem wahrscheinlich dass der Täter sich am Tag des Verschwindens in Düsseldorf aufgehalten hat. Jede Suche hat hier, neben Tanjas Wohnort, einen Ansatzpunkt. Weiterhin konnte auch damals der Täter nicht genau ausschliessen, dass er Spuren an dem Brief hinterlässt, sei es ein Fingerabdruck, eine DNA Spur, sonst etwas. Die allermeisten Personen können die kriminalforensischen Fähigkeiten der Polizei nicht genau einschätzen, viele Leute überschätzen sie sogar. Unterm Strich will ich sagen: für einen normalen Täter ist es nahezu immer besser, gar keine Spur zu hinterlassen, als eine Spur zu legen.
Gehe ich jetzt also davon aus, dass diese Briefe nicht zu einem lange vorbereiteten Ablenkungs- und Verzögerungsschema gehören, dass sich der Täter ausgedacht hat, und in dem er Tanja gezwungen hat, diese Briefe gegen ihren Willen zu schreiben, dann bleibt die Frage: welche Rolle spielen sie dann.
Ich habe mir daraufhin die Briefe noch einmal angeschaut. Auch ich glaube, kleine Hinweise darauf zu entdecken, dass sie diktiert wurden: Abstände zwischen Worten, die mir ungewöhlich erscheinen, so als ob jemand gewartet hat, wie es weitergeht, etc.
Nur, wenn ich beides zusammen betrachte, was ich bisher gesagt habe, scheint es mir, dass Tanja diese Briefe freiwillig geschrieben hat, auch wenn sie diktiert sind.
Das muss ich jetzt erklären: ich habe das Gefühl, dass diese Briefe schon dazu gedacht sind, jemanden zu beruhigen: aber nicht ihre Eltern, sondern Tanja selbst!
Ich will einfach mal das Szenario darstellen, das mir dabei in den Sinn kommt. Wie gesagt, es ist lediglich eine Theorie, für die ich keine Beweise habe, aber ich denke, die Briefe bekommen in ihr auf einmal eine etwas logischere Erklärung als bisher:
Tanja war zwar ein rebellischer Teenager, aber hatte an jenem Morgen keine Pläne, für immer ihr Elternhaus zu verlassen. Sie hatte zwar keine sonderlich grosse Lust auf Schule, aber mangels Alternativen, begab sie sich auf den Schulweg. Dort traf sie auf einen Bekannten, der eventuell ihre Lustlosigkeit bemerkte, und der ein grosses Interesse an Tanja hat. Vermutlich spontan hat er die Idee: "Tanja, mach doch einfach heute blau und lass uns zusammen etwas unternehmen!" Ich denke dabei, dass er ein Fahrzeug zur Verfügung hat, und auch dass er eine "sturmfreie" Bude hat (dazu unten mehr). Tanja ist überrascht, aber schnell begeistert. Sie willigt ein. Sie geht bisher nur davon aus, die Schule zu schwänzen, nicht abzuhauen.
Im Verlauf des Tages haben beide viel Spass zusammen. Ich vermute, der Unbekannte hat eine räumliche Beziehung zu Düsseldorf und dass die beiden den Tag dort verbracht haben (D ist ja nicht weit von W). Tanja geniesst die Freiheit.
Der Unbekannte hat noch viel grössere Pläne, ihm gefällt es, mit Tanja zu sein, er versucht sie zu überreden, weiter bei ihm zu bleiben. D hat ein interessantes Nachtleben in der Altstadt, man könnte noch soviel Spass haben. Und noch mehr: Der Unbekannte macht im Laufe des Tages einen ganz "wilden" Vorschlag: Lass uns doch für eine oder zwei Wochen abhauen! Nach Holland, Amsterdam, ans Meer, was auch immer!
Für Tanja eine total reizvolle Idee, wenn da das schlechte Gewissen nicht wäre, dass sich jetzt ganz lautstark meldet: "Nee, du, das kann ich doch nicht. Meine Eltern machen sich Sorgen! Ausserdem muss ich doch die Hasen füttern! Und überhaupt, ich hab doch den Babysitter Job, da kann ich nicht einfach wegbleiben! Und morgen kommt ein Paket für mich an, ich hab was bestellt, ich will doch da sein wenn das geliefert wird... " Tanjas Gewissen bringt ihr eine ganze Reihe Argumente, warum sie nicht weiter bei dem Unbekannten bleiben kann.
Der will nicht aufgeben, geht aber darauf ein: "OK, das verstehe ich. Aber machen wir es doch so: Du schreibst Deinen Eltern einen Brief, sagst ihnen alles ist OK, sagst Ihnen, sie sollen beim Babysitter Job Bescheid sagen..." Tanja ist verblüfft. Sie überlegt, ob ihr das wirklich eine innere Rechtfertigung gibt, von zu Hause wegzubleiben. Verlockend ist es schon. Sie sagt: "Was soll ich denn da schreiben?" Der Unbekannte, der offensichtlich Tanja gut "lesen" kann und intelligent ist, legt ihr Papier und Stift vor: "Schreib! Liebe Mama, lieber Papa..." Tanja lässt sich einreden, dass sie mit diesem Brief ruhig eine Weile wegbleiben kann. Zusammen wirft man ihn in den Postkasten und hat einen schönen und aufregenden Abend in Düsseldorf.
Am nächsten Tag erwacht das schlechte Gewissen wieder. 2 Wochen wegbleiben? Nee, das geht doch nicht, meine Eltern machen sich bestimmt Riesensorgen, ich krieg Ärger mit dem Job..... Der Unbekannte versucht es noch einmal: "Na gut, dann lass uns wenigstens bis zum Wochenende was unternehmen. Drei Tage Amsterdam..." Was auch immer. "Du kannst Deinen Eltern ja schreiben, dass Du auf jeden Fall am WE wieder zu Hause bist! Versprochen! Komm, schreib!..." Und so entsteht der zweite Brief.
Dann aber geschieht etwas, was Tanja dazu bringt, das Ganze abzubrechen. Das vermasselt die schönen Pläne des Unbekannten. Es kommt zu einem Streit, in dem der Unbekannte handgreiflich wird, es eskaliert, Tanja wird getötet. Ich kann mir da einige Szenarien vorstellen.
Aus dem wenig durchdachten, spontanen trip in die grosse weite Erwachsenenwelt wird ein Horrortrip.
Aber die beiden Briefe wurden geschrieben, als alles noch ganz rosig aussah.
Was meint Ihr? Noch einmal betont, das ist lediglich eine Theorie, die ich auf den Briefen aufbaue. Ich stelle mir dabei vor, dass es sich bei dem Unbekannten um eine männliche Person handelt, die bereits Führerschein und Fahrzeug besitzt, also vielleicht 3-4 Jahre älter als Tanja ist und die beiden kannten sich recht gut, waren aber nicht ein "Paar." Ich könnte mir vorstellen, dass der Unbekannte eine Wohnung in D hatte. Vielleicht erst seit kurzer Zeit, so dass es auch für ihn ein spannendes Ereignis war. In den Tagen um Tanjas Verschwinden begann an den Universitäten das Wintersemester. Vielleicht war es ein Student im ersten Semester, der bisher auf Tanjas Schule gegangen war, und der nun selbst zum ersten Mal eine "eigene Bude" hatte.
Noch ein letztes Wort zu den Briefen: heutzutage kommt einem Briefschreiben sehr fremd vor. Heute macht man alles per SMS etc. Damals gab es schon handys aber sie waren nicht weit verbreitet und teuer. Telefoniert wurde hauptsächlich im Festnetz. Und da Tanja keine Auseinandersetzung mit den Eltern wollte, jedenfalls nicht gleich und sofort, war Brief schreiben eine verlockende Alternative zum Anrufen: man brauchte die Reaktion nicht gleich miterleben. Deshalb nahm Tanja die Idee auf.
Zuweit hergeholt? Oder doch eine plausible Erklärung für die merkwürdigen Briefe?