Der schwarze Mann/Soko Dennis
28.11.2011 um 12:38
Hier ein Artikel von Stern.de :
"Ich bin durch die Hölle gegangen"
Zu den Mordopfern des "Maskenmannes" Martin N. gehört Dennis R., der 1995 aus einem Zeltlager entführt wurde. Seitdem musste der Betreuer
des Jungen mit dem schrecklichen Verdacht leben, die Tat selbst begangen zu haben. Von Kerstin Herrnkind
Die Kinderleiche war auf der Spitze eines Hügels nordöstlich von Holstebro in Dänemark verscharrt. Eine Hand ragte aus der Erde. Ein deutscher Tourist, der an diesem Sommermorgen im August 1995 den Hügel hinaufgestiegen war, um die Aussicht zu genießen, entdeckte das Grab und alarmierte die Polizei. Vier Tage später stand fest, dass es sich bei dem Kind um Dennis R. handelte. Der Achtjährige war 15 Tage zuvor nachts aus einem Zeltlager bei Schleswig entführt und ermordet worden. An der Leiche des Jungen waren rote Lacksplitter sichergestellt worden.
16 Jahre sollte es dauern, bis die Polizei Martin N. Mitte April dieses Jahres vor seiner Wohnung in Hamburg festnahm. Unter Weinkrämpfen gestand der 40-Jährige nicht nur, im Sommer 1995 Dennis R. getötet zu haben, sondern auch den 13-jährigen Stefan J. und den neunjährigen Dennis K. Darüber hinaus räumte Martin N. – der im Referendariat als Lehrer gescheitert war und zuletzt in der Erwachsenenbildung gearbeitet hatte – den Missbrauch von 40 weiteren Jungen ein, die er meist im Schlaf überfallen hatte.
Mit dem Geständnis ging für den 53-jährigen Krankengymnasten Peter Baum* ein jahrelanger Alptraum zu Ende. Der Belgier war 1996 beschuldigt worden, Dennis R. ermordet zu haben, und hat sogar in Untersuchungshaft gesessen. Vage Indizien und fragwürdige Ermittlungen sorgten dafür, dass er fast 16 Jahre lang mit dem Verdacht leben musste, ein Kindermörder zu sein.
Verdacht fällt auf Betreuer
Am 23. Juli 1995 gehen die Kinder im Zeltlager am Selker Noor bei Schleswig gegen 22 Uhr zu Bett. Eine Betreuerin liest den Jungen, die im Zelt Nummer 13 schlafen, noch eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Dennis R. schläft beim Vorlesen ein. Er ist ein freundlicher, aufgeweckter Blondschopf. Ein bisschen ängstlich. Dennis R. kommt aus zerrütteten Familienverhältnissen, lebt im Heim. Die ersten Tage im Zeltlager hat Dennis R. Heimweh gehabt. Doch inzwischen hat sich der Junge gut eingelebt.
Peter Baum ist als Hauptbetreuer für das Zelt mit der Nummer 13 eingeteilt. Anders als in den Nächten davor, schläft er in dieser Nacht nicht bei den Kindern. "Ich war erschöpft von einer Nachtwanderung und wollte endlich mal ausschlafen." Baum legt sich mit drei anderen Betreuern in ein großes Wikingerzelt, das etwa 20 Meter von dem Zelt mit der Nummer 13 entfernt aufgeschlagen worden ist. Gegen 3 Uhr nachts, so gibt Baum später zu Protokoll, habe er noch einmal nach den Kindern gesehen. Dennis habe geschlafen. Am nächsten Morgen, als gegen sechs Uhr die Lagerglocke läutet, ist Dennis R. verschwunden.
Nachdem das Kind tot in Dänemark aufgefunden worden ist, rekonstruiert die Kripo Flensburg, dass Dennis R. zwischen 3 Uhr und 5.45 Uhr morgens aus dem Zelt entführt worden sein muss. Die Ermittler glauben nicht daran, dass der Mörder ein Fremder ist. Mit Dennis R. haben zehn Jungen zusammen im Zelt geschlafen. Er hatte seinen Schlafsack ganz hinten links im Zelt ausgerollt. "Fremde Personen hätten das Kind nicht ohne Lärm aus dem Zelt holen können", notiert Kommissar P. in einem Vermerk. "Kinder im Zelt 13 hätten etwas gemerkt, ebenso die Kinder und Betreuer in den sehr eng stehenden Nachbarzelten."
Rote Lackpartikel in Baums Auto
Die Kripo stellt keinen Zusammenhang her zum Mord an Stefan J. Der 13-jährige war drei Jahre zuvor, im März 1992, aus seinem Zimmer in einem Internat bei Scheeßel entführt und ermordet worden. Die Ermittler suchen den Mörder von Dennis R. in seinem Umfeld. Eine Fehleinschätzung, die Peter Baum zum Verhängnis werden soll.
Der Krankengymnast wird als Zeuge vernommen. Freimütig räumt der Frühaufsteher ein, dass er Dennis R. morgens häufiger im Duschraum getroffen habe. Auf Nachfrage bestätigt er außerdem, dass er vor einigen Jahren in Dänemark im Urlaub gewesen sei – und zwar in der Nähe des Leichenfundortes. Das macht ihn für die Kripo verdächtigt. Doch eine Betreuerin, die mit Baum im Winkingerzelt geschlafen hat, ist sich sicher, dass niemand das Zelt in jener Nacht verlassen habe. Sie erinnert sich außerdem, dass Peter Baum mit ihr am Morgen aufgewacht sei.
Dann aber werden im Kofferraum von Peter Baum rote Lackpartikel sichergestellt. Eine Untersuchung des Landeskriminalamtes in Kiel bestätigt, dass die roten Splitter aus Baums Kofferraum in "Farbe, Schicht und Struktur" mit denen vom Leichenfundort übereinstimmen. Im Januar 1996 ergeht Haftbefehl gegen Peter Baum.
Noch bevor der Krankengymnast verhaftet wird, geht das Ergebnis einer Untersuchung des Bundeskriminalamtes bei der Staatsanwaltschaft ein: Die roten Lacksplitter in Baums Kofferraum stammen von seinem Feuerlöscher. "Es ist somit keine Übereinstimmung des Lacks aus dem Kofferraum des Pkw mit dem Lack von Leichenfundort festzustellen."
Dubiose Ermittlungsmethoden
Inzwischen hat allerdings auch der Vater des 1992 ermordeten Stefan J. Peter Baum ins Visier genommen. Anders als die Kripo hat er schon nach dem Mord an Dennis R. den Verdacht, dass die Kinder einem Serienmörder zum Opfer gefallen sein könnten. Der Vater meint sich auch daran zu erinnern, dass sein Sohn Baums Namen mal erwähnt habe.
Der Vater engagiert die Detektive Reginald N. und Vladimir N., die den Krankengymnasten zu Hause aufsuchen. Er habe die Detektive sogar in seine Wohnung gebeten, um "in Ruhe mit ihnen zu reden", erinnert sich Baum. "Sie meinten, ich solle den Mord endlich zugeben. Als ich ablehnte, haben sie mich ein paar Tage lang regelrecht verfolgt. Sie standen sogar vor dem Fenster der Praxis, in der ich arbeitete, und riefen: ,Wir kriegen dich, du Schwein'."
Die Detektive übergeben der Kripo ein graues langes Haar, das sie von Baums Jacke geklaubt haben wollen. Kommissar P. schickt das Haar tatsächlich ans Bundeskriminalamt. Das BKA sendet das Haar im Januar 1997 postwendend nach Flensburg zurück. Zwischen den Zeilen drücken die Gutachter ihre Entrüstung darüber aus, dass sie ein rechtswidrig gewonnenes Beweismittel untersuchen sollten. Sie würden – "wie bekannt sein sollte" - nur "sach- und fachgerecht" entnommene Blut- und Haarproben begutachten, schreiben sie dem Kommissar.
Im Visier des Boulevard
Eine angebliche Ex-Freundin von Peter Baum meldet sich bei der Kripo. Nie habe er sexuelles Interesse an ihr gezeigt, gibt sie zu Protokoll und behauptet, der Krankengymnast habe sich Kindern gegenüber distanzlos verhalten. Obwohl Baum bestreitet, dass die Frau seine Freundin gewesen sei, führt die Kripo sie fortan als wichtige Zeugin.
Im Dezember 1998 ergeht ein zweiter Haftbefehl gegen den Krankengymnasten. Außer den Angaben der vermeintlichen Ex gibt es keine neuen Beweise gegen Baum. Doch das Amtsgericht Flensburg übernimmt die These der Kripo, dass kein Fremder das Kind entführt haben könne: "Es ist nach den bisherigen Ermittlungen nicht wahrscheinlich, dass es einem fremden Täter gelungen wäre, Dennis gegen seinen Willen aus seinem Schlafzelt zu führen", schreibt der Richter in den Haftbefehl gegen Baum. "Ein Ortsfremder wäre bei der Entführung des Jungen aus dem Zelt Nr. 13 ein erhebliches Risiko der Entdeckung eingegangen." Auf dem Weg zur Arbeit wird Peter Baum verhaftet.
"Mörder des kleinen Dennis gefasst", titelt die Boulevardpresse. Der Krankengymnast kommt in Einzelhaft. Die Anstaltsleitung fürchtet, Baum könne von seinen Mithäftlingen verprügelt werden. Seine Chefin schreibt an die Kripo, schildert, wie gut Peter Baum mit Kindern umgehen könne und dass seine kleinen Patienten ihn vermissen würden. Der Brief wird zu den Akten gelegt. Baum versucht, nicht den Mut zu verlieren. "Ich wusste, dass ich unschuldig war, und hoffte, dass die Gerechtigkeit siegen würde", erinnert er sich. Er habe viel meditiert und die Tage gezählt. Noch heute weiß er auf Anhieb zu sagen, wie lange er gesessen hat: "89 Tage."
Nach fast drei Monaten hebt das Landgericht Flensburg den Haftbefehl im März 1996 gegen Baum wieder auf. Es gibt keine Beweise gegen ihn. Der Krankengymnast wird aus der U-Haft entlassen. Ein halbes Jahr später stellt die Staatsanwaltschaft Flensburg das Verfahren gegen ihn ein.
Die Verdächtigungen reißen nicht ab
Peter Baum zieht in eine andere Stadt, heiratet und will sich gerade mit einer eigenen Praxis selbstständig machen, als im September 2001 der neunjährige Dennis K. aus einem Schullandheim in Wulsbüttel entführt und ermordet wird. Nach diesem Mord wird den Ermittlern klar, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun hat. Die "Soko Dennis" wird gegründet.
Die Beamten vernehmen Peter Baum. Er sei zur Tatzeit zu Hause gewesen, gibt er zu Protokoll. Seine Frau bestätigt sein Alibi. Die Kripo glaubt dem Ehepaar offenbar nicht, befragt die Nachbarschaft. Eine Lehrerin meint sich plötzlich zu erinnern, dass Baum "Kindern immer so komisch hinterher schauen" würde. Fernsehteams lungern vor Baums Haus. "Wir haben uns nicht mehr aus der Tür gewagt", erinnert sich seine Frau.
Wieder meldet sich eine vermeintliche Ex-Freundin von Peter Baum. Sie schickt der Staatsanwaltschaft Flensburg Liebesbriefe, die Baum ihr geschrieben haben soll. Die Behörde lässt die knapp 50 handgeschriebenen Seiten, die in niederländischer Sprache abgefasst sind, für über 1.000 Euro übersetzen – allerdings ohne vorher zu prüfen, ob Peter Baum wirklich der Verfasser ist. Erst später merkt die Kripo: Der Liebesbriefschreiber heißt nicht Peter, sondern Olaf. Er ist Niederländer und kein Belgier. Zwar spricht Peter Baum auch niederländisch. Doch nicht mal die Geburtsdaten der Männer stimmen überein. Olaf Baum ist 17 Jahre jünger als Peter Baum. Die Spurenakte wird geschlossen.
Baum muss weiter mit dem Verdacht leben, ein Kindermörder zu sein. "Freunde haben sich abgewendet. Leute tuschelten: ,Wo Rauch ist, ist auch Feuer'", erzählt der Krankengymnast. Regelmäßig seien er und seine Frau zur Therapie gegangen. "Sonst wäre ich ein Fall für die Psychiatrie geworden". Mit der Zeit gelingt es dem Krankengymnasten, einen Patientenstamm für sich zu gewinnen. Doch zum Stammtisch der ortsansässigen Krankengymnasten sei er nie eingeladen worden.
Martin N. gesteht
Fast zehn Jahre nach dem Mord an Dennis K. wendet sich die "Soko" im Februar 2011 noch einmal mit ihren Erkenntnissen an die Öffentlichkeit. Als der 26-jährige Martin W. die Fernsehberichte sieht, fällt ihm etwas ein: In einem Ferienlager hatte ein Betreuer namens Martin ihn 1995 nach seinem Zuhause ausgefragt und ihn Skizzen zeichnen lassen. Monate später ist er nachts in seinem Kinderbett überfallen und missbraucht worden. Schnell findet die Kripo den Namen des Betreuers heraus: Martin N.
N. erzählt den Beamten, wie er sich im Sommer 1995 in seinem Ferienhaus in Dänemark gelangweilt habe. Er sei zum Ferienlager gefahren und habe sich einfach in eines der Zelte geschlichen. Der geständige Serienmörder ist genauso dreist vorgegangen, wie die Ermittler es jahrelang nicht für möglich gehalten haben. Dennis R. sei sogar freiwillig mit ihm mitgegangen, behauptet Martin N. "Der wollte ein Abenteuer." Er habe das Kind mit in sein Ferienhaus genommen und in den nächsten Tagen viele Ausflüge mit ihm unternommen. "Klingt wahnsinnig, aber ich hatte so ein Gefühl wie sein Papa zu sein."
Nach einer Woche sei ihm klar geworden, dass er das Kind nicht mehr zurückbringen könne. "Da habe ich ihn noch erwürgt." Die Leiche habe er auf dem Hügel vergaben. Mit einer "ollen Schaufel. Irgend so eine Spielzeugschaufel." An die Farbe könne er sich nicht mehr erinnern.
Ob die roten Lackpartikel am Leichenfundort von der Schaufel stammten, mit der Martin N. Dennis R. vergraben hat, wird wohl nicht mehr geklärt werden. Eine rote Kinderschaufel aus Metall, die die Kripo bei der Durchsuchung der Wohnung von Martin N. übersehen hatte, soll nicht mehr untersucht werden. Schließlich, so die Staatsanwaltschaft, habe Martin N. gestanden.
"Sie haben ihn. Endlich"
Peter Baum sitzt vorm Fernseher, als plötzlich die Bilder von der Pressekonferenz über die Verhaftung von Martin N. gezeigt werden. "Sie haben ihn. Endlich", schreit er und fällt seiner Frau um den Hals. Das Ehepaar öffnet eine Flasche Sekt.
Ein paar Tage später hat Peter Baum in seiner Praxis eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Kommissar P. – der damals besonders eifrig gegen Baum ermittelt hat - hat ihm aufs Band gesprochen: "Ich wollte Ihnen sagen, dass ich damals falsch gelegen habe und Ihnen alles Gute wünschen." Die "halbherzige Entschuldigung" des Kommissars will Baum nicht annehmen. "Ich bin durch die Hölle gegangen."
*Name und Beruf geändert