Doppelmord in Herne: Täter Marcel H. in Haft
03.06.2017 um 19:10
Zum Thema Nazissmus würde ich an dieser Stelle gern einige Beschreibungen aus dem Buch "Persönlichkeitsstörungen - Leitfaden für die psychologische Psychotherapie" von Rainer Sachse zitieren:
"7.2.4 Erfolglose Narzissten
7.2.4.1 Das Phänomen
Erfolglose Narzissten (ELNAR) sind Personen, die die eingangs definierten Merkmale von Narzissten aufweisen: Sie zeigen ein negatives Selbstschema, ein kompensatorisch-positives Selbstschema, ein starkes Anerkennungsmotiv sowie ein (mehr oder weniger ausgeprägtes) Regel-Setzer-Verhalten.
Was sie jedoch zentral von erfolgreichen NAR unterscheidet, ist ihr Leistungsverhalten: ELNAR zeigen entweder gar kein Leistungsverhalten, realisieren also keinerlei kompensatorische Leistungsbemühungen (wir bezeichnen diese Variante als Typ 1 des erfolglosen NAR) oder sie bleiben in ihrem Leistungsverhalten deutlich hinter ihren (intellektuellen) Möglichkeiten zurück (wir bezeichnen diese Variante als den Typ 2 des erfolglosen NAR; Sachse et al., 2011b).
Infokasten:
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Die "völlig Erfolglosen" (Typ 1) sind meist solche, die die Schule abbrechen oder gerade knapp schaffen, eine bis drei Lehren abbrechen, aus mehreren Jobs fliegen, arbeitslos sind, zuhause sitzen und Computerspiele spielen, sehr wenig soziale Kontakte und keinen Partner haben. Viele leben mit 30 oder 40 Jahren noch bei den Eltern und werden von denen versorgt. Man hat den Eindruck, dass diese Personen "sich on ihrem Elend einigermaßen gut eingerichtet haben." Sie sitzen (drastisch formuliert) zwar in der Scheiße un die riecht auch etwas streng, ist aber warm, und es wäre vor allem äußerst anstrengend, sie zu verlassen.
Die "relativ Erfolglosen" (Typ 2) haben Abschlüsse, haben diese aber trotz ausreichender Intelligenz nur knapp geschafft, sind nicht wirklich erfolgsorientiert, leisten so wenig wie möglich, nehmen keine Herausforderungen an oder vermeiden sie systematisch, vermeiden Anstrengungen und bleiben (weit) in ihren Leistungen und Erfolgen hinter ihren Möglichkeiten zurück. Sie leben eigenständig und sind auf den ersten Blick nicht erfolglos: Sie gehen einem Job nach, haben ein Einkommen, Partner, ein eher "normales" Leben. Sieht man aber genauer hin, dann wird erkennbar, dass sie Jobs haben, für die sie eigentlich überqualifiziert sind, dass sie keine Möglichkeit ergreifen, Karriere zu machen, dass sie nur so viel leisten, wie unbedingt erforderlich ist, dass sie größere Anstrengungen systematisch vermeiden, dass sie Herausforderungen nicht suchen und nicht annehmen. Sie werden "gerade so eben" den an sie gerichteten Anforderungen gerecht.
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Natürlich wird sofort ersichtlich, dass die völlig Erfolglosen das deutlich größere Problem darstellen und deshalb wollen wir uns hier vorrangig mit dieser Gruppe beschäfgtigen.
7.2.4.2 Charakteristika erfolgloser Narzissten
1. Motive
ELNAR weisen ein starkes Anerkennungsmotiv auf sowie oft ein Wichtigkeits - und Solidaritätsmotiv. Autonomie kann manchmal ebenfalls eine Rolle spielen.
2. Negatives Selbstschema
Das negative Selbstschema ist sehr stark ausgeprägt und die Klienten weisen eine sehr geringe Selbst-Effizienz-Erwartung auf. Im Durchschnitt ist das Selbst-Schema der ELNAR deutlich negativer als das der NAR (was, so weit wir sehen, auf stärkere Abwertungen in der Biographie zurückgeht), wesentlich ist aber vor allem die geringe Selbst-Effizienz-Erwartung: Die Kleinten haben Annahmen, dass sie nichts oder nur sehr wenig bewirken werden, dass ihnen nichts oder nur sehr wenig gelingt oder dass sie sich aufgrund ihrer mangelnden Kompetenzen extrem würden anstrengend müssen, um doch etwas Nennenswertes zu erreichen.
3. Illusionäres, positives Selbstschema
Das positive Selbschema ist illusionär positiv und enthält Annahmen darüber, was die Klienten alles hätte erreichen können oder welche Fähigkeiten sie (vermutlich) aufweisen. Die Klienten haben Annahmen wie:
- "Im Grund bin ich intelligent."
- "Wenn ich von meinen Eltern mehr gefördert und von meinen Lehrern weniger gemobbt worden wäre, dann wäre ich heute Anwalt."
- "Also bin ich im Grund Anwalt."
Die Annahmen der Klienten können hier extrem stark von der realen Situation abweichen.
4. Unrealistische Ziele
Erfolglose NAR geben meist an, dass sie Ziele verfolgen, jedoch sind diese Ziele gemessen an ihren Fähigkeiten und vor allem gemessen an ihrem geringen Ausbildungs - und Kenntnisstand völlig unrealistisch:
- So will ein Klient ohne Schulbildung und Ausbildung "Anlage-Berater" werden.
- Ein Klient ohne Ausbildung hat sich als Immibilien-Makler versucht (und ist daran gescheitert)
- Ein Klient ohne Schulbildung und Ausbildung sagt: "Ich will einen Job, in dem man mindestens 4000€ verdient."
- Ein Klient ohne Schulabschluss sagt zum Therapeuten: "In drei Jahren gehe ich nach Hollywood und da komme ich ganz groß raus."
- Ein Klient ohne Ausbildung sagt zu einem Therapeuten: "Ich weiß, dass ich nicht mehr Bundeskanzler werden kann; aber Bundesminister werde ich bestimmt noch."
5. Anstrengungsvermeidung
Erfolglose NAR zeigen ein hohes bis extrem hohes Ausmaß an Anstrengungsvermeidung: Sie vermeiden alle Aktivitäten, die Anstrengung erfordern, die längeres oder höheres Engagement erfordern, bei denen es erforderlich wäre, Ausdauer zu zeigen, sich zu engagieren, etwas zu leisten.
6. Exkulpierendes Verhalten
ELNAR benutzen in hohem Maße exkulpierende (entschuldigende) Annahmen, die "erklären", warum sie keine realen Erfolge aufweisen. HIer haben sie Annahmen wie:
- "Niemand hat mich gefördert."
- "Alle waren gegen mich."
- "Das Schulsystem ist unfair."
- "Man hat mir keine Chance gegeben."
- "Lehrer haben mich sabotiert."
- "Das Leben ist ungerecht" usw.
7. Regel-Setzer-Verhalten
ELNAR weisen oft in hohem Maße Regel-Setzer-Verhalten auf, das ihnen (massive) interaktionelle Probleme einbringt. Interessanterweise erwarten ELNAR manchmal einen ähnlichen VIP-Status wie Erfolgreiche ("da ich Anwalt bin, will ich auch wie einer behandelt werden"). Während Interaktionspartner aber erfolgreichen Personen dieses Verhalten noch durchgehen lassen, finden sie es jedoch bei erfolglosen meist hochgradig unangemessen, was dan entsprechend negative soziale Reaktionen provoziert.
8. Erfolglosigkeit
ELNAR sind entweder beruflich völlig erfolglos und haben keinen Schulabschluss, keine Ausbildung o.a. oder sie bleiben in ihren beruflichen Erfolgen (weit) hinter ihren realen Möglichkeiten zurück. "
S. 105 - 108, 2. Auflage
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Und wenn ich schon mal dabei bin, Textstellen aus Literatur abzutippen, hier noch ein, meiner Meinung nach relativ treffendes Zitat von Stephan Harbort aus seinem Buch "Aus reiner Mordlust":
Es gibt tatsächlich, typische Merkmale, die mordlüsterne Täter in der Mehrzahl der Fälle (65 Prozent und mehr, siehe Anhang) beschreiben, typisieren: männlich, jünger als 30 Jahre, ledig, deutscher Staatsangehörigkeit, durchschnittlich intelligent, mäßige schulische Leistungen, Hauptschulabschluss, beruflich gescheitert oder weniger erfolgreich, polizeibekannt oder vorbestraft. Mordlust entwickeln also in erster Linie Menschen, deren Vita brüchig ist, die vornehmlich negative Lebenserfahrungen gemacht haben.
Nur muss bezweifelt bleiben, ob die genannten Merkmale und die Mordlust als Merkmalsträger kausal miteinander verbunden sind. Denn die allermeisten Menschen mit einer sehr ähnlichen Vita haben nicht das Bedürfnis, seinesgleichen niederzumachen. Wahrscheinlich handelt es sich bei dieser recht spezifischen Phänomenologie um bloße Nebeneffeklte einer sich individuell vollziehenden Fehlentwicklung, die sich im Einzelfall gleichwohl im negativen Sinne verhaltensbegünstigend auswirken können. Ein Teufelskreis?
Das charakteropathische Profil der Täter unterscheidet sich ebenfalls signifikant von dem der Normalbevölkerung. 68 Prozent der Mörder leiden unter mindestens einer Persönlichkeitsstörung, wobei dissoziale und schizoide Elemente deutlich dominieren.
Anmerkung von mir: Dem Anhang ist zu entnehmen, dass auch die narzisstische Persönlichkeitsstörung mit 32% im Vergleich zu den 36%, die jeweils die dissoziale und schizoide PS anteilig ausmachen, signifikant häufig in dieser Tätergruppe vorhanden ist.
In den übrigen Fällen handelt es sich um Menschen, die nicht als krank im Sinne klinischer Diagnostik einzustufen sind, wohl aber akzentuierte Charaktermerkmale erkennen lassen, also jenseits der Norm, jedoch nicht krankhaft, irgendwo dazwischen.
Etwas differenzierter betrachtet kennzeichnet die Täter eine flache Affektivität, sie erscheinen gemütsarm, selbstverliebt und sind leicht zu kränken. Andererseits neigen sie zu Selbstüberschätzungen, es fehlt die Sensibilität für soziale Normen und Werte, sie leiden unter emotionaler Instabilität und verfügen über eine gering ausgeprägte Frustrationstoleranz und Kritikfähigkeit. Allerdings lässt auch diese nicht abschließende Aufzählung keine generalisierte Aussage zu, weil die genannten Merkmale zwar gehäuft auftreten, nur eben jeweils in unterschiedlicher Zusammensetzung und Ausprägung. Im Einzelfall gar nicht. Ein idealtypisches Charakterprofil ist demnach Illusion.
Ähnlich verhält es sich, wenn nach Auffälligkeiten im Familienverband der Täter gefragt wird. Gewiss, eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung, die emotionale Vernachlässigung durch Mutter oder Vater oder beide, eine Trennung bzw. Scheidung der Erziehungsberechtigten, mehrjährige Verweilzeiten in Erziehungsheimen oder bei Pflegeeltern und eine fehlende Vorbildfunktion der Eltern sind ungünstige Rahmenbedingungen, die Kinder und Jugendliche während der sensiblen Reifezeit vor große Probleme stellen, empfänglicher machen für normabweichende Grundhaltungen und eine positive Entwicklung beeinträchtigen können. Nur lässt sich anhand dieser Faktoren eben nicht zwanglos herleiten, warum nur die allerwenigsten Menschen mit gravierenden Problemen in der Primärfamilie irgendwann abdriften und mordlüsterne Vorstellungen bzw. Bedürfnisse entwickeln.
Anders liegen die Dinge, wenn der Fokus auf das Sozialverhalten des Täters gerichtet wird. In diesem Kontext sind zwei Grundpositionen zu beobachten, die sehr unterschiedlich sind, aber auf der Metaebene wieder zusammengeführt werden können. Entweder sind die Täter verschroben wirkende, überangepasste Einzelgänger, oder aber sie leben als chronische Missachter von Normen und Rechtsbrecher jenseits der sozialen Ordnung. Bei unterschiedlicher inhaltlicher Ausschärfung verbindet beide Lebensmodelle indes die größtenteils selbst gewählte Außenseiterposition und die damit verbundene Verhaltensauffälligkeit.
Noch deutlicher wird dieser innere Zusammenhang, wenn man berücksichtigt, dass nahezu alle Täter ein lediglich marginal ausgeprägtes Selbstwertgefühl entwickeln und unter ihrem sozialen Status, ihrer vermeintlichen Bedeutungslosigkeit, leiden. Man könnte die Freude an der Vernichtung eines Menschenlebens darum nicht nur als pathologisches Verhalten verstehen oder deuten wollen, sondern unter Umständen als soziologisch determiniertes.
Jeder Mensch benötigt neben anderen Voraussetzungen ein gesundes und gesichteres Selbstwertgefühl, um für die Aufgaben des Alltags, aber auch besondere Herausforderungen des Lebens gerüstet zu sein. Diese Ich-Stärke wird niemandem in die Wiege gelegt, sie muss von Kindern und Heranwachsenden mühsam erworben, erstritten oder erkämpft und gepflegt werden. Wer ein schwaches Selbstwertgefühl hat, dem gelingt es nur schwer und viel zu selten, widersprüchliche Erfahrungen, Enttäuschungen, Zurücksetzungen oder Kränkungen zu skzeptieren und in das Selbstbild zu integrieren. Die Konsequenz daraus ist eine zutiefst widersprüchliche Existenz, eine scheinbar unüberwindbare Indentitätsunsicherheit. Es mangelt an einem gewachsenen und wehrhaften Selbstkonzept, die Präsentation der eigenen Person und Persönlichkeit misslingt.
Erfolgserlebnisse in unterschiedlichen Lebensbereichen, positive Erfahrungen mit der sozialen Umwelt und mit sich selbst, aber auch die wiederkehrende Selbstbestätigung sund Basiselemente für ein stabiles Selbstbild und Ich-Gefühl. Menschen mit dieser sozialen Konstitution und Einbindung besitzen zweifellos Fähigkeiten, um sich auch in sozialen bzw. zwischen menschlichen Konflikten behaupten und durchsetzen zu können und werden - dieser Erfahrungswert darf als gesichert gelten - vergleichsweise selten verhaltensauffällig oder delinquent.
Ein schwaches Selbstbewusstsein und eine schwankende Selbsteinschätzung fördern die Neigung, sich der andernfalls drohenden Stigmatisierung als Schul-, Berufs-, Beziehungs- oder Lebensversager zu entziehen (Einzelgängertum) oder das als feindselig empfundene und erlebte soziale System zu negieren und eine scheinbar unabhängige, radikale Position zu beziehen (Dissozialität)
Am Ende dieser Entwicklung stehen entweder Bindungs - oder Haltlosigkeit, in jedem Fall aber Orientierungslosigkeit. Und genau diese Formen des sozial abweichenden Verhaltens sind charakteristische für Täter, denen es bei ihren Morden in erster Linie oder ausschließlich um die bloße Vernichtung eines Menschenlebens geht. Die Taten haben eben keinen übergeordneten Zweck, sondern beseitigen allein die soziale Existenz des Opfers, die der Täter zerstört, glaubt, vernichten zu müssen, weil sie für ihn letztlich unerreichbar bleibt und eine fortwährende Provokation darstellt. Insofern könnte tatsächlich eine ausgeprägte Kausalität zwischen dem sozialen Status des Täters und seiner Zielrichtung bestehen.
Die Motivation, zu töten, lässt sich im Wesentlichen auf zwei Bedürfnisse zurückführen, die unterschiedlicher Natur sind und nicht nur das tatbezogene, sondern auch das künftige Verhalten des Täters maßgeblich beeinflussen. Am häufigsten darf die Mordlust als emotionales und seelisches Stimulans verstanden werden, als besonderer Kick, den sich der Täter erhofft. In diesen Fällen ist ausnahmslos eine genau dieses Thema betreffende Fehlentwicklung zu beobachten, die sich regelmäßig über Jahre erstreckt und mit entsprechenden Phantasien verbunden ist oder wiederkehrenden, eher diffus erlebten, kaum oder gar nicht beherrschbaren Erregungszuständen.
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Anders hingegen liegen die Dinge bei solchen Tätern, die den Tötungsakt selbst nicht mit starken Emotionen verbinden, sondern in aller Regel mit genau diesen beiden Fragen: Wie ist das wohl? Schaffe ich das? Motivrelevant ist hier nicht der Drang, einen Menschen zu töten, um sich daran zu ergötzen, sondern pathologisch eingefärbte Neugier.
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Als Tatwaffen werden Messer und Pistole favorisiert, die Opfer erleiden regelmäßig multiple Verletzungen, gewöhnlich dauert eine solche Tat länger als eine halbe Stunde. In jedem zweiten Fall kommt es zu einem "Overkill", es wird also wesentlich mehr Gewalt angewendet, als zur bloßen Tötung notwendig wäre.