Stephan Harbort hat in seinem Buch "Mörderisches Profil: Phänomen Serienkiller" sechs Seiten den 'Kläranlagen-Morden' gewidmet. Da er die Fälle immer in anonymisierter und pseudonymisierter Form darstellt (aus "Handschellen am Rücken" wird eine "Paketschnur vor dem Bauch" etc), sind Zeit-, Orts-, Berufs- und sonstige Angaben mit Vorsicht zu genießen. Namen sowieso. Ich habe die erfundenen Namen weggelassen bzw durch die uns bekannten Namen ersetzt.
Da auch einige Angaben denen von 'Aktenzeichen XY' und anderen zeitnahen Berichten widersprechen, gehe ich davon aus, dass auch die Ermittlungsergebnisse und Erkenntnise zu den einzelnen Taten miteinander vermischt werden.
Harbort berichtet zuerst über den Leichenfund im Klärwerk Erzhausen am 2. Juli 1983 und zitiert aus dem
»objektive[n] Tatbefund« der Kripo Frankfurt: »Die Leiche lag hinter dem 'Schneckenzufluß', in einer schrägen Rückenlage mit der linken Schulter an der westlichen Außenseite des Wasserschachts, die rechte Schulter auf dem Rechen. Die Leiche wies erhebliche Zerstörungen auf, der rechte Oberschenkel war abgerissen, das Becken zertrümmert, die Knochen des rechten Oberschenkels lagen frei. Der Schädel war zertrümmert.«
Dann zitiert er aus dem Obduktionsbericht:
»Männlicher Leichnam, etwa 16 bis 24 Jahre alt. (...) Fortgeschrittener Fäulniszustand mit ausgedehnter Fettwachbildung. (...) Die erhebliche Zerstörung der Leiche kann durch die Schneckenpumpe nach dem Tod hervorgerufen worden sein. (...) Keine Hinweise auf Stich- oder Schußverletzung. (...) Die Liegezeit dürfte mehr als sechs Monate betragen haben. (...) Eine Todesursache ist nicht objektivierbar.«
Da Fingerabdrücke nicht mehr genommen werden konnten - die Leiche lag zu lange im Wasser - konnte der Tote erst nach der "Aktenzeichen XY"-Sendung anhand seiner Kleidung als Markus Hildebrandt identifiziert werden, einem
18-jährigen Lehrling aus Frankfurt. [...] [Markus Hildebrandt] hatte ein unstetes Leben geführt. Als Kind war er mehrfach in Erziehungsheime gesteckt worden, hatte kleinere Gaunereien begangen. Er war immer wieder bei verschiedenen Bekannten untergekommen, hatte sich schließlich im Rotlicht-Milieu gelegentlich als »Stricher« angeboten. Zeugen berichteten, ihn »Ende Januar 1983« letztmals lebend gesehen zu haben. Er habe sich in Begleitung von drei Personen befunden und »nach Saarbrücken« gewollt.
Die drei Personen konnten nicht ermittelt werden, auch in Saarbrücken ergab sich nichts. Aber die Ermittler zogen eine Verbindung zu fünf anderen Tötungsdelikten,
begangen in den Jahren 1976 bis 1983. In Gießen, Rodenbach, Frankfurt, Offenbach, Hanau. Alle Opfer waren im Bereich einer Kläranlage gefunden worden und hatten sich regelmäßig oder gelegentlich prostituiert. Lediglich in einem Fall war die Todesursache festgestellt worden: »erhebliche stumpfe Gewalt auf den Schädel«. Aufgrund der »Übereinstimmungen des jeweiligen Tatbefundes sowie des sozialen Umfeldes der Opfer« wurde die Hypothese favorisiert, »alle Straftaten dürften von demselben Täter begangen worden sein«
Das führte die Ermittler ins entsprechende "Milieu":
Intensive Befragungen insbesondere in Offenbach und Frankfurt erbrachten einen ersten »ernst zu nehmenden« Hinweis. Der führte zu [XX], einem »alten Bekannten«. Der 40-Jährige war zweiundzwanzigmal verurteilt worden, mehrfach hatte man ihn hinter Gitter geschickt. Unter anderem wegen »homosexueller Handlungen in zwei Fällen« und »Vornahme sexueller Handlungen an einem Minderjährigen«. Dann wurden die Ermittler hellhörig. Mehrere Zeugen wussten Bemerkenswertes über den Lageristen aus Offenbach zu berichten: »Der hat die Jungs schon mal geschlagen, wenn sie nicht wollten.« Oder: »Er ist auch brutal geworden, hat die jungen Burschen gefesselt.« Schließlich wurden die Strafakten wegen »sexueller Nötigung« ausgewertet, mehr als 100 Zeugen aus dem Milieu vernommen. Das Ergebnis war wenig schmeichelhaft, es entlarvte den 1,95-Meter-Hünen als brutalen Schläger, der seine sexuellen Obsessionen gewaltsam durchsetzte: Er malträtierte seine Opfer mit Fäusten, einem Schlagring, fesselte und bedrohte sie mit dem Tode (»Sonst mach' ich dich platt!«).
[XX] war nun »verdächtig«. Mittlerweile hatten vier Zeugen übereinstimmend ausgesagt, dass er und [Markus Hildebrandt] in denselben einschlägigen Lokalen gesehen worden seien, allerdings nie gemeinsam.
Daraufhin wurden
»Tatrelevante Objekte« in denen [XX] sich kurz- oder längerfristig aufgehalten hatte, [...] »nach möglichen Beweismitteln« durchsucht und kriminaltechnisch untersucht [...].
Und die Ermittler wurden fündig:
Ein Bekannter [XXs], der 45-jährige [YY] besaß eine Gartenlaube. Dort waren von dem Verdächtigen drei Jungen missbraucht worden. In der Hütte konnten die Beamten mehrere Fingerspuren sichern. Und rötlich-bräunliche Substanzen, möglicherweise Blut: an einem Bettpfosten, an einer Tischkante. Die Fingerspuren wurden mit den Fingerabdrücken von [XX], [YY] und denen des Opfers verglichen. Die Spuren konnten zweifelsfrei [XX] und [YY] zugeordnet werden - bis auf eine Handflächenspur.
Diese Spur passte jedoch nicht zu Markus Hildebrandt.
Das serologische Gutachten ergab folgendes:
Zu der am Bettpfosten gesicherten Anhaftung konnte lediglich festgestellt werden: »Es handelt sich um menschliches Blut« Für konkretere Aussagen war die Menge »zu gering« gewesen. Die Auswertung der Spuren an der Tischkante hingegen hatte ergeben »(...) Blutspuren stammen von mindestens drei verschiedenen Personen.« Die Blutgruppen konnten ebenfalls mitgeteilt werden. Bei den Blutspuren handelte es sich überwiegend um Spritzer, wie sie üblicherweise beim Schlagen in blutende Wunden beziehungsweise beim Abschleudern von Tatwerkzeugen entstehen.
Von welchen Personen die Spritzer stammten konnte anscheinend nicht ermittelt werden. (Leider wird auch nicht verraten, ob sich die Blutgruppen mit einigen der Opfer decken.)
In den Wohnungen von [XX] und [YY] fand man:
eine Gaspistole, Handschellen, ein Schlachtermesser. In einer Türverkleidung hatte man sieben Einschüsse festgestellt, ein Projektil sichern können. Nach Auskunft des Bundeskriminalamts war jedoch »eine Identifizierung nicht möglich«. Zwei weitere Wohnungen, [XX] war dort für einige Zeit untergekrochen, waren durchsucht worden. Fehlanzeige. Der mutmaßliche Mörder wurde schließlich vernommen. Sein Kommentar: »Ich sage nichts.«
Die Ermittler folgerten:
»Aufgrund der Gesamtumstände kann davon ausgegangen werden, daß [XX] mit hoher Wahrscheinlichkeit als Täter für die Sache [Hildebrandt] infrage kommt. Ein Beweis läßt sich derzeit nicht führen.«
Alle genannten Tötungsdelikte wurden nun zentral durch das Hessische Landeskriminalamt bearbeitet.
Die »Arbeitsgruppe (AG) 229« wurde ins Leben gerufen. Vier Kriminalisten hatten von nun an die Aufgabe, den mutmaßlichen Serienmörder zu überführen. Im Fahdenkreuz der Ermittler: [XX]
Um dem Verdächtigen näherzukommen, um Anhaltspunkte zu möglichen psychischen Störungen, sexuellen Perversionen oder andere tatrelevante Hinweise zu finden, zogen die Ermittler auch ein Urteil heran, das im Dezember 1978 durch das Landgericht Frankfurt verkündet worden war:
[XX] stammte aus der ehemaligen DDR, wurde in Chemnitz geboren, wuchs in »geordneten Verhältnissen« auf, besuchte die Volksschule. Bis zur 8. Klasse. Dann begann er eine Lehre als Dachdecker, übte diesen Beruf auch drei Jahre aus. 1960 kam er in die Bundesrepublik, arbeitete auch hier. Zunächst in einem Kraftwerk, später in einem Verlag. 1961 erfolgte die erste Verurteilung - wegen Diebstahls. Danach immer wieder. Nach mehreren Haftstrafen kam er im März 1975 frei, arbeitete einige Zeit als Lagerist. Danach nicht mehr. Er blieb arbeitslos. Während dieser Zeit knüpfte er enge Kontakte zum Prostituierten- und Zuhältermilieu in Frankfurt. Zeitweilig hatte er eine ganze Clique im Milieu verhafteter, überwiegend junger Männer um sich herum. [XX] zeigte sich »großzügig«, gab sich als »starker Mann«. Das Gericht stellte dem Angeklagten jedoch ein außerordentlich schlechtes Zeugnis aus: »Seine soziale Prognose ist denkbar ungünstig. Er lebt enthemmt, ziellos, dem 'Milieu' verhaftet und ohne jeglichen Ansatz einer positiven Lebensgestaltung.«
Das Ermittlungsergebnis lag im August 1985 vor:
Es hatte sich herauskristallisiert, dass [XX] einerseits »von Strichern gemieden« wurde, andererseits jedoch »beliebt« war. Der Grund: Er bezahlte seine Sexualpartner - ausnahmslos junge Männer, die in ihrer Not oder um den nächsten »Schuss« finanzieren zu können, ihren Körper feilboten - »überdurchschnittlich gut«. [...] Einige seiner Freier [?] hatten ihn angezeigt - Wegen seiner »perversen Methoden«
Die Ermittler kommen in dem Bericht zu dem Schluß:
»Ermittlungen bzgl. eines möglichen Tatmotives erbrachten den durch verschiedene Zeugenaussagen belegten Nachweis, daß alle Getöteten sich als ‘Stricher' betätigt und im Strichergebiet in Frankfurt aufgehalten haben. Es dürfte sich somit mit hoher Wahrscheinlichkeit um sexuell motivierte Taten handeln, wobei der Täter bei Würdigung der Erkenntnisse aus allen Verfahren im Homo- bzw. Strichjungenmilieu im Raum Frankfurt/Offenbach zu suchen sein dürfte.«
Da Todesursachen beziehungsweise Tötungsarten nicht festgestellt werden konnten, Sachbeweise fehlten und auch die Tatzeiten nur sehr vage eingegrenzt werden konnten, sprachen für eine Täterschaft von XX lediglich Indizien:
Er hatte sich seit Mitte 1975 »nachweislich« im Rhein-Main-Gebiet aufgehalten, war dort in der Grauzone menschlicher Begierden und Perversionen »bekannt«. [...] Zudem konnte ermittelt werden, dass er »drei Opfer gekannt» hatte. In einem weiteren Fall »musste dies vermutet werden». Alibi-Überprüfungen waren kaum durchzuführen. Man musste sich damit begnügen zu recherchieren, ob [XX] zu den fraglichen Tatzeiträumen inhaftiert oder im Rhein-Main-Gebiet gewesen war.
Er hätte die Möglichkeit zu den Taten gehabt, mehr konnte man aber nicht festestellen, was der Ermittlungsbericht so zusammenfasst:
»Der anfängliche Tatverdacht gegen [XX] hat sich im Verlaufe der Ermittlungen erhärtet. Insbesondere wegen fehlender Sachbeweise kann eine Täterschaft jedoch beim derzeitigen Sachstand nicht nachgewiesen werden.«
Nach dem Auffinden der Leiche von Daniel Schaub am 21. Juni 1989, der
bereits am 25. Januar 1983 vermisst gemeldet worden war, und sich ebenfalls
gelegentlich prostituiert hatte, wurden die Ermittlungen wieder aufgenommen.