@Neusser1988 et.al.
Und nun sehen wir, warum Juristen den "Mord durch Unterlassen" im Zusammenhang mit der Autofahrt durch das einsame Dorf zwar alle aus dem Examen kennen, aber kaum in der Praxis so einem Tatvorwurf begegnen werden.
In der Theorie, auf dem Papier, sieht das alles ganz cool aus, die Staatsanwältin aber, die eine solche Akte von der Polizei auf den Schreibtisch bekommt, wird sich nicht freuen:
Für den grundsätzlicheren Vorwurf des versuchten Totschlags brauchen wir erst einmal den Vorsatz. In vielen Rechtsordnungen, z.B. im amerkanischen oder britischen Recht geht man davon aus, dass für versuchten Mord oder Totschlag ein spezifischer Vorsatz gelten muss, ein bedingter reicht nicht. Lange wurde das unter deutschen Juristen auch so gesehen. Das bedeutet, der Täter muss den Tod des Opfers wollen.
Nun aber heisst es, der bedingte Vorsatz ist ausreichend, das bedeutet, der Täter muss die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass das Opfer sterben kann, und es muss ihm egal sein.
Und da sind wir bei der ersten aber schweren Hürde: das Opfer ist ja offensichtlich nicht verstorben, sonst würden wir nicht vom Versuch sprechen. Nun muss dem Täter nachgewiesen werden, dass er den Tod des Opfers in Kauf genommen hat. Da wir hier das Unterlassen anklagen, also die Hilfeleistung oder den Notruf unterlassen zu haben, muss nachgewiesen werden, dass der Täter die Verletzungen des Opfers als potentiell lebensbedrohend erkannt hat.
Daran wird eine Anklage schon oft scheitern. Welcher Täter ist schon Arzt und kann das in Minutenschnelle erkennen? Manche harmlose Kopfplatzwunde sieht wegen der starken Blutung extrem dramatisch aus, ist aber keineswegs potentiell lebensbedrohend. Das Opfer in Braunschweig hingegen hatte kaum äusserlich erkennbare Verletzungen, ist aber verstorben.
Dann muss auch noch nachgewiesen werden, dass nicht nur die Verletzung potentiell lebensbedrohend ist, sondern auch dass das Opfer wahrscheinlich nicht rechtzeitig von anderen gefunden werden wird. Hier fallen wieder recht viele Szenarien in dem dicht besiedelten, verkehrsreichen Deutschland weg.
Sollte es die tapfere Staatsanwältin nun bis zum versuchten Totschlag geschafft haben, muss sie auch noch die Mordmerkmale nachweisen. In Frage kommt hier in der Regel nur die Verdeckungsabsicht. Hier kann man streiten, ob das überhaupt anwendbar ist, wenn es nur darum gehen soll, eine OWi zu verdecken. Die StAin kann versuchen wie im Lösungsansatz oben, über die "sonstigen niedrigen Beweggründe" hineinzugehen.
Meiner Meinung nach werden trotz Sympathie seitens des BGH hier viele Richter nicht bereit sein, mitzugehen.
Daher denke ich, werden wir in der Praxis nur selten eine Anklage des versuchten Totschlags, und noch viel seltener eine des versuchten Mordes erleben. Und eine Verurteilung wird noch seltener erfolgen.
Im vorliegenden Fall hat die Beschuldigte natürlich viel getan, um eine Verdeckungsabsicht zu betonen. Man wird sehen, wie sich das auswirkt.
Was meine Meinung betrifft, so denke ich schon lange, dass die deutsche Praxis im Bereich Verkehr überarbeitet gehört. Fahrlässige Tötung sollte öfter mal in Frage gestellt werden zugunsten einer Anklage des Totschlags. Leider tut sich die Justiz da erstaunlich schwer.
Und der Mordparagraph ist ja eh schon in der Diskussion, das aber wäre hier OT.