Doppelmord Babenhausen
17.04.2014 um 22:59
"Menschen machen nun mal Fehler"
Anja Darsow glaubt, dass ihr Mann zu Unrecht wegen Doppelmordes verurteilt wurde und kämpft für eine Wiederaufnahme des Verfahrens – Rechtsanwalt Strate hat das Mandat übernommen.
Von: Angela Stoll
Die schmalen weißen Reihenhäuser schmiegen sich eng aneinander. In den Vorgärten liegt buntes Plastik-Spielzeug, warm beschienen von der Frühlingssonne. Man hört das Rauschen des Verkehrs der nahen Bundesstraße, die durch die südhessische Kleinstadt Babenhausen führt. Dies scheint eine ganz gewöhnliche Gegend zu sein, nicht schön, nicht hässlich – eben so wie unzählige andere in Deutschland. Wären da nicht die Morde. Vor fünf Jahren wurde hier, im Endhaus des Vierspänners, ein Ehepaar erschossen. Die erwachsene Tochter überlebte die Schüsse schwer verletzt. Und seit fast vier Jahren sitzt dafür der Nachbar im Gefängnis. Er hat die Tat nach Auffassung des Gerichts begangen, weil die Familie nebenan so viel Lärm machte. Doch Angehörige und Freunde des verurteilten Täters glauben, dass die Geschichte ganz anders war.
Streitigkeiten unter Nachbarn haben hierzulande eine lange Tradition. Böse Briefe, Drohungen, Anzeigen, mitunter sogar Handgreiflichkeiten am Maschendrahtzaun – all das kennt man. Aber Mord? Das klingt unglaublich. In diesem Fall sollen Geschrei und Gepolter jedoch so schlimm gewesen sein, dass der Nachbar keinen anderen Ausweg sah, als die Lärmverursacher „auszulöschen“.
In einem spektakulären Indizienprozess verurteilte das Landgericht Darmstadt den damals 41-jährigen Industriekaufmann Andreas Darsow im Jahr 2011 wegen zweifachen Mordes und versuchten Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit besonderer Schwere der Schuld. Nach Überzeugung des Gerichts hat Darsow dem 62-jährigen Immobilienmakler Klaus T. am frühen Morgen des 17. April 2009 aufgelauert und ihn mit sechs Schüssen getötet. Danach soll er ins Haus eingedrungen und die schlafende 58-jährige Ehefrau des Maklers erschossen haben. Im zweiten Stock feuerte der Täter zweimal auf die damals 37-jährige Tochter des Paares, Astrid T., die ebenfalls schlief. In der Annahme, alle drei getötet zu haben, verließ er das Haus.
Es ist Abend geworden. Anja Darsow trinkt eine Tasse Kaffee, um noch ein bisschen wach zu bleiben. Ein langer Tag liegt hinter ihr. Seitdem ihr Mann einsitzt, erzieht sie ihre drei Kinder allein und arbeitet ganztags in Frankfurt. Sie hat noch einen zweiten Vollzeit-Job: den Kampf für die Freilassung ihres Mannes. Sie hat nie an seiner Unschuld gezweifelt, auch wenn sie dafür keine Beweise hat. Am dem Tag, an dem das Verbrechen geschah, war sie nämlich mit den Kindern bei ihrer Familie in Mecklenburg-Vorpommern. „Wenn jemand so etwas tut, ist er krank“, sagt sie. Ihr Mann sei aber ein ganz normaler Mensch. Unterstützt wird die 36-Jährige von Freunden und Bekannten, die sich im Verein „Monte Christo“ zusammengeschlossen haben.
Doch der Weg bis zur Freilassung dürfte lang sein: Da der Bundesgerichtshof das Urteil 2012 bestätigt hat, bleibt den Darsows nur die Möglichkeit, ein Wiederaufnahmeverfahren anzustrengen. Ihre ganze Hoffnung setzen sie auf den Hamburger Rechtsanwalt Gerhard Strate, der noch in diesem Jahr einen entsprechenden Antrag einreichen will. Nur wenn dieser Antrag zugelassen wird, wird ein anderes Gericht den Fall neu aufrollen. Strate ist Spezialist auf diesem Gebiet – unter anderem vertrat er Gustl Mollath, der nach sieben Jahren Zwangsunterbringung in der Psychiatrie im vergangenen August entlassen wurde. „Das Urteil strotzt von Merkwürdigkeiten“, sagt Strate. „Ich kann noch nicht sagen, ob wirklich ein Justizirrtum vorliegt. Aber ich habe das starke Gefühl, dass es so ist.“
Am Tatort fanden sich keine verwertbaren DNA-Spuren, die Tatwaffe ist verschollen. Die überlebende Tochter konnte wegen einer geistigen Behinderung nicht als Zeugin aussagen. Wie kamen die Ermittler auf Darsow? Eine entscheidende Rolle spielt ein selbstgebastelter Schalldämpfer: Der Täter soll eine mit Bauschaum gefüllte Plastikflasche auf seine Waffe aufgesetzt haben, um leise zu schießen. Darauf deuteten angeschmauchte Bauschaumteilchen am Tatort und an den Leichen hin. Auf einer Schweizer Internetseite war damals eine Anleitung zum Bau eines solchen Dämpfers abrufbar. Wenige Wochen vor der Tat soll Andreas Darsow sie von seinem Firmencomputer aus aufgerufen und unter seinem Benutzernamen ausgedruckt haben.
Außerdem entdeckten die Ermittler bei einer Hausdurchsuchung an einer alten Bundeswehrhose Darsows Schmauchpartikel, deren Elementkombination laut Urteil mit den Spuren am Tatort übereinstimmt. Auch an einem Pulsmesser und einem Gartenhandschuh fanden sich ein paar Partikel. Kommt noch hinzu, dass der Täter offensichtlich die Gewohnheiten des Opfers Klaus T. kannte.
Der Verein „Monte Christo“ hält diese Hinweise für wenig stichhaltig. So sei nicht bewiesen, dass es Andreas Darsow war, der auf die Internet-Seite zugegriffen habe. Auch Kollegen hatten Zugang zu dessen Computer und kannten sein Passwort. Auch die Schmauchspuren, so argumentieren die Unterstützer Darsows, besagen wenig. Die Bundeswehrsachen habe er zuletzt bei einer Reserveübung getragen. „Auf Grund solch fragwürdiger Indizien darf niemand verurteilt werden“, sagt der Sprecher des Vereins, Christoph Kemp.
Dass man aus Getränkeflaschen Schalldämpfer bauen kann, ist nicht nur unter Spezialisten bekannt.
„Grundsätzlich kann man jeden ausreichend festen Hohlkörper als mehr oder weniger wirksamen Schalldämpfer missbrauchen”, erklärt der Sachverständige für Schalldämpferwaffen, Martin Erbinger. Von Schaumkrümeln allein könne man auch nicht ableiten, dass zwangsläufig eine ausge-schäumte PET-Flasche verwendet wurde. Bei einem ungeklärten Delikt im Schweizerischen Seween im Jahr 1976 geht man davon aus, dass die Tatwaffe mit Schaumstoff und Klebeband umwickelt oder ein mit Schaumstoff gefülltes Rohr auf die Tatwaffe geklebt wurde, wie der Experte berichtet.
Die beiden größeren Kinder schauen fern. Währenddessen versucht Anja Darsow vergeblich, ihren Jüngsten ins Bett zu bringen. Er ist vier Jahre alt, wurde erst nach den Verbrechen geboren. Seinen Vater kennt er nur als Häftling, den er gelegentlich im Gefängnis besucht. Alle zwei Wochen steht Darsow eine Stunde mit drei Besuchern zu. Eines der Kinder muss also daheim bleiben. „Der Vater fehlt“, erzählt die Mutter. So weit wie möglich versucht sie, ihren Kindern ein normales Leben zu bieten. „Sie wissen, dass ihr Vater unschuldig ist, dass ich für ihn kämpfe und uns dabei viele Leute helfen.“ Auf keinen Fall möchte sie aber, dass die Kinder „einen Groll aufbauen“. Deshalb erklärt sie ihnen nur nüchtern: „Menschen machen nun mal Fehler.“
Vor ihr liegt ein Stapel Papier - die Begründung des Urteils. Auf mehr als 290 Seiten erklären die Richter, warum sie Darsow, den Kollegen einen „liebevollen Vater“ nannten, für einen brutalen Täter halten. Sie zeichnen das Bild eines introvertierten Mannes, der jahrelang unter dem Lärm der Nachbarn litt. Wegen der aus seiner Sicht „unerträglichen Lebenssituation“ fasste er den mörderischen Plan, den er eiskalt in die Tat umsetzte, als seine Frau verreist war.
Der BGH akzeptierte die umfangreiche Begründung. Für Josef Seidl, den Vorsitzenden von „Monte Christo“, ist sie dagegen eine „rund geschriebene Räuberpistole“. Durch das Urteil habe er den Glauben an „unseren Rechtsstaat“ verloren.
Was weiß man über die Opfer? Sie lebten zwar sehr zurückgezogen, legten aber „auffällige Verhaltensweisen“ an den Tag, wie im Urteil zu lesen ist. Mutter Petra T., die demnach an psychischen Problemen und Depressionen litt, verließ in den Jahren vor ihrem Tod nicht mehr das Haus. Ihr Mann Klaus T. wird im Urteil als „zunehmend kauzig“ beschrieben. Er betrieb im Souterrain seines Wohnhauses ein Immobilienbüro, dessen Geschäfte angeblich schlecht liefen, und soll viel Alkohol getrunken haben. Die autistische Tochter Astrid arbeitete in einer Behindertenwerkstatt. Wegen finanzieller und persönlicher Probleme kam es laut Gericht immer öfter, auch nachts, zu Geschrei, Türenknallen und Gepolter. Außerdem gaben Mutter und Tochter laut Urteilsbegründung „undefinierbare, fast tierische Laute von sich“. Die Lebensqualität der Darsows, die Wand an Wand wohnten, sei dadurch beeinträchtigt gewesen.
Doch Anja Darsow sagt, dass sich ihre Familie nicht belästigt fühlte. Die Reihenhäuser seien sehr gut isoliert. Das bestätigt Nachbar Falk Zappe, der gleich nebenan wohnt: „Nur wenn's mal ganz ruhig ist und jemand nebenan extrem poltert oder die Türe klatscht, kann man das hören. Das ist vielleicht einmal im Jahr der Fall.“
Gehört habe man das Geschrei der Nachbarn nur außerhalb des Hauses, sagt Anja Darsow. Im Jahr 2001 hätten sie und ihr Mann die Polizei geholt, weil sie Rufe der Tochter Astrid gehört und sich Sorgen um sie gemacht hätte. Aus diesem Vorfall, der aktenkundig wurde, hätten die Ermittler einen Nachbarschaftskonflikt konstruiert, den es so nie gegeben habe. „Wir hatten nach 2001 keinen Kontakt mehr“, sagt die 36-Jährige.
Sie wirft der Polizei einseitige Ermittlungen vor. „Alles, was nicht gepasst hat, wurde weggewischt“, sagt Anja Darsow. Dazu gehören ihrer Ansicht nach alle Spuren, die von ihrem Mann als Täter wegführten: Spürhunde etwa, die seinen Geruch am Tatort nicht ausfindig machen konnten, und auch die Drohungen, die Makler Klaus T. offenbar erhalten hatte. Christoph Kemp vermutet, dass die Ermittler unter Erfolgsdruck standen: Im Jahr 2002 gab es in derselben Straße einen Mord, der nicht aufgeklärt wurde. Damals wurde am helllichten Tag eine junge Frau erschlagen.
Die Kinder sind im Bett, es ist spät geworden. Anja Darsow beantwortet weiter konzentriert alle Fragen. Seit vier Jahren kämpft, hofft und bangt sie. Sie hat unzählige Gespräche geführt, Interviews gegeben, mit Anwälten gesprochen, Gutachter beauftragt, Infomaterial vorbereitet und verteilt, sogar an den Bundespräsidenten geschrieben. Mit einem bitteren Lächeln erzählt sie vom ersten Anwalt ihres Mannes, der nach dessen Festnahme gesagt habe: „Herr Darsow, das ist alles Pillepalle! In zwei Wochen sind Sie wieder draußen.“ Wie sehr hat er sich getäuscht. „Es ist erschreckend, dass man so in eine Maschinerie hineinkommen kann und gar keine Chance hat“, sagt die 36-Jährige. Doch sie hört nicht auf zu glauben, dass ihr Mann eines Tages freigesprochen wird. Und alles wieder gut wird. So wie im Märchen am Ende der böse Zauber verfliegt und die Guten gewinnen.
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