Erdrotation, Bezugssysteme, Scheinkräfte?
16.11.2022 um 22:40@Peter0167: Zunächst zu folgendem Punkt, weil er von allgemeiner Bedeutung ist:
Übrigens war die Physik sogar bereits vor Einstein's Zeit ziemlich international aufgestellt (zumindest im europäischen Rahmen -- die USA und andere Regionen spielten damals noch keine nennenswerte Rolle). Von ca. Mitte der 1800er bis ca. 1900 waren mathematische/physikalische wissenschaftliche Veröffentlichungen ungefähr gleich auf Englisch, Französisch und Deutsch verteilt. Wer auf dem Laufenden bleiben wollte, dem blieb nicht viel anderes übrig, als die wesentlichen Veröffentlichungen in allen drei Sprachen zu lesen. Von ca. 1900 bis ca. 1920 war Deutsch dominant, das ist aber eben mehr als hundert Jahre her.
Das bedeutet natürlich nicht, dass man physikalische Zusammenhänge nicht auf Deutsch beschreiben kann, aber sobald Probleme auftreten, ist ein Vergleich mit entsprechenden englischsprachigen Quellen oft sehr nützlich. Gerade Kraftfelder sind ein Bereich, wo es von Fehlinterpretationen und Missverständnissen nur so wimmelt, und es ist meiner Erfahrung nach bemerkenswert schwierig, Beschreibungen zu erstellen, die sowohl (im angemessenen Rahmen) fachlich korrekt als auch gut verständlich sind.
Spektrum Lexikon der Physik liefert:
Wikipedia liefert:
Diese schwammige Definition des Begriffs Schwerkraft passt mit meiner obigen Feststellung zusammen, dass dieser Begriff meist in einem übergeordneten, abstrakteren Sinne verwendet wird. Für eine konkrete, genau quantifizierte Kraft ist es i.d.R. besser, die präziser definierten Begriffe Gravitationskraft oder Gewichtskraft zu verwenden.
Aus Zeitgründen nur kurz zur Situation im Englischen: Die üblichsten englischen Übersetzungen (siehe z.B. hier) für Schwerkraft sind gravity und gravitation. Die meisten englischsprachigen Quellen, darunter auch Wikipedia, behandeln die beiden Begriffe gleichbedeutend. Gravity oder gravitation können wie Schwerkraft sowohl für Gravitationskraft als auch auch für Gewichtskraft stehen. Im Fall der Gewichtskraft wird üblicherweise der jeweilige Himmelskörper in der Bezeichnung mit angegeben, z.B. -- wie von @mojorisin oben zitiert -- Gravity of Earth. In diesem Fall ist die Situation im deutsch- und englischsprachigen Raum also ziemlich ähnlich.
Ich würde aber selbst dazu tendieren, den Begriff Schwerkraft allein (d.h. im Sinne von "natürlicher" Schwerkraft) nur im Zusammenhang mit Himmelskörpern zu verwenden, auch wenn die Definition von Schwerefeld in Wikipedia -- wie ich weiter oben erläutert hatte -- eine Verwendung z.B. für durch Zentrifugalkraft erzeugte künstliche Schwerkraft erlauben würde. Für den Begriff "künstliche Schwerkraft" ist das sowieso nicht relevant.
Peter0167 schrieb am 12.11.2022:Im Übrigen sehe ich nicht ein, warum es nicht möglich sein sollte, physikalische Zusammenhänge in meiner Muttersprache zu beschreiben, insbesonders auf dem Laienniveau, auf dem ich dies versuche. Es ist vollkommen inakzeptabel, hier auf englischsprachige Quellen zugreifen zu müssen, oder gar auf spezielle Lehrbücher und Fachliteratur.Die mit weitem Abstand maßgebliche Sprache in der Physik ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Englisch. Ca. 85% meiner Physik-Fachbücher sind englischsprachig, nur ca. 15% sind deutschsprachig. Die gesamte moderne Physik ist grösstenteils auf ein englischsprachiges Weltmodell ausgelegt. Das kann bei deutschsprachigen Diskussionen insbesondere dann zu Problemen führen, wenn es keine präzisen 1:1-Übersetzungen zwischen den verwendeten Fachbegriffen gibt, was häufiger vorkommt. Deshalb ist es bei Unklarheiten nahezu immer eine sehr gute Idee, Begriffe und Beschreibungen mit entsprechenden englischsprachigen Quellen zu vergleichen, wie @mojorisin es oben getan hat. In Beiträgen, wo ich auf Wikipedia-Artikel Bezug nehme, lese ich nahezu immer sowohl den deutsch- als auch den englischsprachigen Artikel.
Kraftfelder und deren Feldgrößen sind kein Hexenwerk, welches unerfüllbare linguistische Anforderungen stellt. Deutsch als meine Muttersprache sollte vollkommen genügen, Einstein hatte auch keine andere Basis, als er seine Relativitätstheorien entwickelte.
Übrigens war die Physik sogar bereits vor Einstein's Zeit ziemlich international aufgestellt (zumindest im europäischen Rahmen -- die USA und andere Regionen spielten damals noch keine nennenswerte Rolle). Von ca. Mitte der 1800er bis ca. 1900 waren mathematische/physikalische wissenschaftliche Veröffentlichungen ungefähr gleich auf Englisch, Französisch und Deutsch verteilt. Wer auf dem Laufenden bleiben wollte, dem blieb nicht viel anderes übrig, als die wesentlichen Veröffentlichungen in allen drei Sprachen zu lesen. Von ca. 1900 bis ca. 1920 war Deutsch dominant, das ist aber eben mehr als hundert Jahre her.
Das bedeutet natürlich nicht, dass man physikalische Zusammenhänge nicht auf Deutsch beschreiben kann, aber sobald Probleme auftreten, ist ein Vergleich mit entsprechenden englischsprachigen Quellen oft sehr nützlich. Gerade Kraftfelder sind ein Bereich, wo es von Fehlinterpretationen und Missverständnissen nur so wimmelt, und es ist meiner Erfahrung nach bemerkenswert schwierig, Beschreibungen zu erstellen, die sowohl (im angemessenen Rahmen) fachlich korrekt als auch gut verständlich sind.
Peter0167 schrieb am 12.11.2022:Es wäre jedoch wünschenswert, wenn man bei der Verwendung des Begriffs "künstliche Schwerkraft" darauf hinweisen würde, dass hier nicht die Schwerkraft selbst im Vordergrund steht, sondern nur die Simulation ihrer Wirkung durch andere Trägheitskräfte wie z.B. die Zentrifugalkraft.Hier muss ich nochmal wiederholen:
uatu schrieb am 12.11.2022:Es ist für ein "künstliches X" nicht erforderlich, mit dem entsprechenden "natürlichen X" wesensgleich zu sein. Es muss lediglich eine ausreichende Übereinstimmung bei den wesentlichen Eigenschaften bestehen.Das erfordert auch keinen speziellen Hinweis. Neben dem Beispiel "künstliche Blumen" könnte man z.B. auch eine der Urformen des "Künstlichen" betrachten, den Kunststoff. Obwohl sich nahezu alle Kunststoffe wesentlich von den Stoffen (meist Holz oder Metall) unterscheiden, für die sie als Ersatz dienen, fordert hier niemand spezielle Hinweise, dass die Eigenschaften dieser Stoffe "nur simuliert" werden. Du solltest wirklich nochmal darüber nachdenken, ob Deine Sorge, dass irgendjemand den Begriff "künstliche Schwerkraft" im Sinne eines Gravitationsfeldgenerators o.ä. interpretieren könnte, nicht weit übertrieben ist.
Peter0167 schrieb am 12.11.2022:Gibt es eine Schwerkraft in Abwesenheit von Gravitation?Das Problem beginnt damit, dass der Begriff "Schwerkraft" nicht präzise definiert ist. Duden (nach wie vor eine hochwertige, bei Fachbegriffen aber nicht unbedingt maßgebliche Quelle) liefert:
a) Gravitation, GravitationskraftDie Beschreibung unter Punkt b) ähnelt der Beschreibung von Gewichtskraft in Wikipedia, stimmt jedoch nicht genau damit überein. Duden selbst hat keinen Eintrag für Gewichtskraft.
[...]
b) auf jeden im Bereich der Gravitation eines Himmelskörpers, besonders der Erde, befindlichen Körper wirkende Kraft, die sich aus der Gravitationskraft des Himmelskörpers und der durch dessen Rotation bewirkten Zentrifugalkraft zusammensetzt
(Duden: Schwerkraft)
Spektrum Lexikon der Physik liefert:
Schwerkraft, Gewichtskraft, die Kraft, die auf eine Masse m an der Erdoberfläche wirkt.Diese Beschreibung setzt also die Schwerkraft der Gewichtskraft gleich, bezieht sie jedoch spezifisch auf die Erde, was den meisten Beschreibungen von Gewichtskraft widerspricht, weil diese i.d.R. allgemeiner als spezifisch auf die Erde bezogen sind. Spektrum selbst bezieht auch die Gewichtskraft spezifisch auf die Erde.
(Spektrum Lexikon der Physik: Schwerkraft)
Wikipedia liefert:
Schwerkraft steht für:Die erste Variante entspricht der Gravitationskraft, wie auch im Duden. Die zweite Variante ist bemerkenswerterweise keine Kraft, sondern eine Beschleunigung, wobei der Link derzeit auf Schwerefeld umgeleitet wird. Die dritte Variante entspricht der Gewichtskraft, die bei Wikipedia wie folgt beschrieben wird:
in der Physik:
Gravitation
Schwerebeschleunigung
Gewichtskraft
(Wikipedia: Schwerkraft)
Die Gewichtskraft, auch Gewicht, ist die durch die Wirkung eines Schwerefeldes verursachte Kraft auf einen Körper. Im rotierenden Bezugssystem eines Himmelskörpers (wie dem der Erde) setzt sich dieses Schwerefeld aus einem Gravitationsanteil und einem kleinen Zentrifugalanteil zusammen.Um diese Beschreibung angemessen interpretieren zu können, ist eine Weiterverfolgung auf den Begriff Schwerefeld notwendig:
(Wikipedia: Gewichtskraft)
Ein Schwerefeld ist ein Kraftfeld, verursacht durch Gravitation und gegebenenfalls bestimmte Trägheitskräfte. [...]Zusammengefasst finden sich also in drei allgemein respektierten Quellen drei verschiedene Beschreibungen von "Schwerkraft", von denen zwei (Duden und Wikipedia) mehrere Varianten umfassen. Die dritte Variante in Wikipedia würde es sogar zulassen, durch Zentrifugalkraft erzeugte künstliche Schwerkraft als "natürliche" Schwerkraft zu interpretieren (Schwerefeld im weiteren Sinne -> Gewichtskraft -> Schwerkraft).
Im engeren Sinne – insbesondere in den Geowissenschaften – ist das Schwerefeld eines Himmelskörpers zusammengesetzt aus dessen Gravitationsfeld („Erdanziehung“) und der Zentrifugalbeschleunigung in dem Bezugssystem, das mit dem Körper rotiert und ggf. mit ihm im Gravitationsfeld anderer Himmelskörper frei fällt.
[...]
Im weiteren Sinne spricht man vom Schwerefeld in beliebig beschleunigten Bezugssystemen. Im Schwerefeld einer Zentrifuge dominiert die Zentrifugalkraft.
(Schwerefeld)
Diese schwammige Definition des Begriffs Schwerkraft passt mit meiner obigen Feststellung zusammen, dass dieser Begriff meist in einem übergeordneten, abstrakteren Sinne verwendet wird. Für eine konkrete, genau quantifizierte Kraft ist es i.d.R. besser, die präziser definierten Begriffe Gravitationskraft oder Gewichtskraft zu verwenden.
Aus Zeitgründen nur kurz zur Situation im Englischen: Die üblichsten englischen Übersetzungen (siehe z.B. hier) für Schwerkraft sind gravity und gravitation. Die meisten englischsprachigen Quellen, darunter auch Wikipedia, behandeln die beiden Begriffe gleichbedeutend. Gravity oder gravitation können wie Schwerkraft sowohl für Gravitationskraft als auch auch für Gewichtskraft stehen. Im Fall der Gewichtskraft wird üblicherweise der jeweilige Himmelskörper in der Bezeichnung mit angegeben, z.B. -- wie von @mojorisin oben zitiert -- Gravity of Earth. In diesem Fall ist die Situation im deutsch- und englischsprachigen Raum also ziemlich ähnlich.
Peter0167 schrieb am 12.11.2022:Masse erzeugt demnach ein Gravitationsfeld. Die Kraft, die in einem Gravitationsfeld auf einen Körper wirkt nennt man daher auch Gravitationskraft. Jedes Gravitationsfeld ist auch zugleich ein Schwerefeld. Die Kraft, welche in einem Schwerefeld auf den Körper einwirkt, nennt man Schwerkraft.Das ist alles korrekt, wobei ich für die aus einem Schwerefeld resultierende Kraft den Begriff Gewichtskraft besser als Schwerkraft geeignet halte, da er präziser definiert ist.
In einem statischen Gravitationsfeld ohne zusätzlich einwirkende Trägheitskräfte, entspricht die Schwerkraft in Betrag und Richtung der Gravitationskraft. Gesellen sich jedoch andere beschleunigungsbedingte Kräfte wie z.B. die Zentrigufalkraft hinzu, verändert sich die Schwerkraft entsprechend in Betrag und/oder Richtung. Die Gravitationskraft bleibt aber davon unberührt, da sie ausschließlich von den Massen beider Körper sowie dem Abstand abhängt.
Peter0167 schrieb am 12.11.2022:Und genau so habe ich auch den deutschsprachigen Wiki-Artikel zum Schwerefeld interpretiert. Ein Schwerefeld bedingt zwingend ein Gravitationsfeld, ...Da wird's falsch. Offensichtlich sind Dir da einige Abschnitte dieses Artikels, die nicht zu Deiner Vorstellung passen, entgangen. Siehe z.B. das obige Zitat zum Schwerefeld im weiteren Sinne.
Ich würde aber selbst dazu tendieren, den Begriff Schwerkraft allein (d.h. im Sinne von "natürlicher" Schwerkraft) nur im Zusammenhang mit Himmelskörpern zu verwenden, auch wenn die Definition von Schwerefeld in Wikipedia -- wie ich weiter oben erläutert hatte -- eine Verwendung z.B. für durch Zentrifugalkraft erzeugte künstliche Schwerkraft erlauben würde. Für den Begriff "künstliche Schwerkraft" ist das sowieso nicht relevant.
Peter0167 schrieb am 12.11.2022:... da beide Theorien am Ende falsch sind ...Das ist m.E. keine sinnvolle Formulierung. Ein Theorie wie die ART, die alle entsprechenden Beobachtungen auf elegante Weise korrekt beschreibt, platt als "falsch" zu bezeichnen, weil man aus theoretischen Überlegungen schliessen kann, dass sie nicht perfekt ist, halte ich für schwerwiegend irreführend. Das gleiche gilt auch für die Newton'sche Gravitationstheorie, auch wenn sie noch ein bisschen weniger perfekt ist, wobei die grösste Abweichung im Sonnensystem, die Periheldrehung des Merkur, nur ca. 1,2 Hundertstel Grad (43 von 3600 Bogensekunden pro Grad) pro Jahrhundert beträgt. Indem man hervorragende Theorien dieser Art undifferenziert als "falsch" bezeichnet, verliert man jeglichen Abgrenzungsspielraum zu tatsächlich unbrauchbaren Theorien, wie sie von zahllosen Crackpots im Überfluss produziert werden.