azazeel schrieb:Kein einziges Delikt kann man mit mathematischer Sicherheit aufklären. Man kann es mit juristischer Sicherheit (Gericht) aufklären. Und man kann es mit einer "hinreichenden" Sicherheit wissenschaftlich bewerten. Was nun "hinreichend" ist, kann man diskutieren. Es müssten jedenfals "vernünftige Zweifel" an einem abweichenden Tathergang bestehen.
Völlig richtig. Gibt es keine vernünftigen (nicht nur theoretisch mögliche) Zweifel, kann von einer hinreichend hohen Wahrscheinlichkeit gesprochen werden, dass die Erkenntnis zutreffend ist.
azazeel schrieb:Ich nehme gerne Extrembeispiele, um ein grundlegendes Problem zu beleuchten. Ich finde, dann wird es von der Sache her klarer.
So extrem sind die gar nicht. Ergänzend:
Mathematik, Naturwissenschaften und Rechtswissenschaften/Justiz unterscheiden sich da auch nicht wirklich, weil sie alle Kinder der Philosophie und logischen Denkens sind. Die Frage, wann etwas wahr ist, die hat schon Aristoteles und Platon beschäftigt. Letztlich sind institutionelle oder gesellschaftliche Wahrheiten (nicht abwertend) Konstrukte, die sich aufgrund eines Erkenntnisverfahrens ergeben haben und deshalb eine gewisse Legitimität für sich beanspruchen (Luhmann: Legitimität durch Verfahren).
So gibt es eine "prozessuale Wahrheit", das ist der Sachverhalt, den ein Gericht als "bewiesen" betrachtet und als Grundlage für sein Urteil festgestellt hat. Vielleicht auf Grundlage von Zeugenaussagen und technischen Gutachten, die isoliert betrachtet alle nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit zulassen. In der Summe aber keine vernünftigen Zweifel. Der Sachverhalt ist nicht mehr "wahrscheinlich", sondern er wird als wahr betrachtet. Der Beweis ist erbracht. Juristisch kann eine Zeugenaussage oder ein DNA-Abgleich nie der Beweis sein. Sondern ein Indiz oder ein Beweisanzeichen oder -mittel. Ein Konstrukt, wie gesagt.
Weil Ermittlungen kein Urteil sind (es sich hier zudem nur um ein Todesermittlungsverfahren nach § 159 StPO gehandelt hat), reicht eine nicht hinreichende Wahrscheinlichkeit aus, das Verfahren einzustellen. Hier ist es zudem so, dass man eher davon sprechen kann, dass Barschel "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" jedenfalls nicht durch Fremdeinwirkung ums Leben gekommen ist.
Eine mathematische Wahrheit ("zwei unendliche Geraden schneiden sich nie") lässt sich besonders gut und sicher beweisen, weil aus Annahmen ("Gerade", "unendlich") logische Schlüsse gezogen werden. Auch in den Naturwissenschaften gibt es Verfahren (z.B. die Reproduzierbarkeit eines Experiments), aber auch eine großes Feld der Bewertungen und Wahrscheinlichkeitsaussagen (unwahrscheinlich, nicht sehr wahrscheinlich, wahrscheinlich, hinreichend Wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich, ohne Zweifel wahrscheinlich usw.).
Das klappt mit dem wahren Leben nicht so einfach. Das ist weder Labor noch Gleichung. Da kann z.B. eine historische Wahrheit (also das, was tatsächlich in der Vergangenheit passiert ist) von der prozessualen abweichen. Aber hier haben wir auch außerhalb des staatsanwaltschaftlichen Verfahrens keine Erkenntnisse, die das Ergebnis erschüttern könnten.