Politik|Kommentar
Das Pokerface der finnischen Regierungschefs zerbricht und die NATO-Aussagen bekommen Risse - und das ist nicht nur die Schuld der Türkei
Finnlands außen- und sicherheitspolitische Führung, die zwischen den Supermächten feststeckt, wird in Bezug auf den NATO-Prozess immer verwirrter, und der Grund dafür ist eine festgefahrene Situation, schreibt Jussi Pullinen, leitender Redakteur für Wirtschaft und Politik.
Ministerpräsidentin Sanna Marin (sd) und Staatspräsident Sauli Niinistö stellten am 15. Mai auf einer Pressekonferenz im Präsidentenpalast den finnischen NATO-Antrag vor. FOTO: HEIKKI SAUKKOMAA / Pressebild
Jussi Pullinen HS
17:29 | Aktualisiert 17:44
Ein Nachbarland Finnlands führt einen brutalen Eroberungskrieg gegen seinen anderen Nachbarn. Die Finnen wollen Schutz vor Gräueltaten, und deshalb will die Bevölkerung den Beitritt des Landes zur NATO. Diese Tatsachen haben sich nicht geändert.
Die Äußerungen der außen- und sicherheitspolitischen Führung Finnlands darüber, wann Finnland der NATO beitreten könnte, sind dagegen weniger stabil. Sie ändern sich sogar wöchentlich, je nachdem, was der autokratische türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gerade im Kopf hat.
Bereits Ende Mai wurden die Erwartungen an den NATO-Gipfel, der Ende Juni in Madrid stattfinden sollte, heruntergeschraubt.
Damals traf Außenminister Pekka Haavisto (Grüne) mit seinem Amtskollegen, US-Außenminister Anthony Blinken, in Washington zusammen. Natürlich stand auch die Denkweise von Erdoğan auf der Tagesordnung des Briefings.
"Es ist wahrscheinlich sehr wichtig, dass vor dem Madrider Gipfel, der ein wichtiger Moment für die NATO und auch für uns, die Beitrittskandidaten, ist, einige Ergebnisse erzielt werden", sagte Haavisto.
Der US-Spitzendiplomat schloss sich dem an.
"Wie Pekka gerade sagte, ist der NATO-Gipfel nur noch wenige Wochen entfernt, und wir gehen fest davon aus, dass der Prozess im Vorfeld des Gipfels und auch auf dem Gipfel selbst vorankommen wird", sagte Blinken.
Bei den „Kultaranta-Gesprächen" am Wochenende war der Präsident der Republik, Sauli Niinistö, in einer etwas anderen Stimmung.
Niinistö zufolge ist das Madrider Treffen keine Frist, und der Präsident wolle keine weiteren Zeitpläne für Fortschritte auf dem Weg zur NATO-Mitgliedschaft festlegen.
"Denken Sie daran, dass wir seit 30 Jahren über die NATO-Mitgliedschaft sprechen, so dass eine Verzögerung von einem Monat oder etwas länger keine große Sache ist", sagte Niinistö einem Journalisten, der ihn zu diesem Thema befragte.
Doch für Ministerpräsidentin Sanna Marin (sd), die am Dienstag bei einem Treffen der nordischen Ministerpräsidenten in Schweden sprach, schienen der Zeitplan und die Verzögerung von Bedeutung zu sein.
"Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, Lösungen zu finden. Wir versuchen, alle Fragen zu beantworten, die die Türkei hat. Wenn wir die Probleme nicht vor Madrid lösen, besteht die Gefahr, dass die Situation einfriert", sagte Marin.
Die Aussagen sind nicht gerade widersprüchlich, aber das Pokerface einer geeinten Regierung scheint etwas zersplittert zu sein: die einen haben es eiliger, die anderen nicht so sehr.
Dies deutet darauf hin, dass die Positionierung nun das aus Westernfilmen bekannte "mexikanische Unentschieden" ist. Finnland und Schweden, die Türkei und die NATO stehen sich in einem Dreieck gegenüber. Keiner macht einen entscheidenden Schritt, sondern wartet ab, wer zuerst blinzelt.
Die konfus klingenden Aussagen der führenden Politiker sind insofern logisch, als sie versuchen, die Stellung auf unterschiedliche Weise zu öffnen.
In den Reden von Marin wird versucht, von Finnland aus Druck auf die NATO auszuüben, während die Erklärungen von Pärsident Niinistö den Eindruck erwecken, dass der entscheidende Schritt von jemand anderem gemacht werden kann - Finnland kann einfach zusehen.
Hinter den Kulissen glaubt man in Finnland fest daran, dass die Vereinigten Staaten der entscheidende Faktor sind. Sollten die Anträge Finnlands und Schwedens scheitern, würden sowohl die NATO als auch die Vereinigten Staaten an Glaubwürdigkeit verlieren, und das wird das Land nicht zulassen wollen.
Das Basisszenario ist, dass Finnland ernsthaft mit der Türkei verhandelt, sich die Forderungen anhört und ihnen nach Möglichkeit zustimmt. Der eigentliche Schlüssel zu einer Lösung liegt jedoch in den Händen der anderen.
Die Botschaft von Marin kann auch so interpretiert werden, dass sie im Wesentlichen an die Vereinigten Staaten gerichtet ist: wenn Präsident Joe Biden und Aussenminister Blinken die Situation wirklich lösen wollen, sollten sie mit dem Herannahen des Madrider Treffens handeln. Die NATO-Beauftragte des Landes, Julianne Smith, bekräftigte später am Dienstag, dass es das Ziel der USA sei, dass die Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens in Madrid diskutiert werden könne.
In der Praxis ist der Druck in den nächsten zwei Wochen also groß. Je näher wir Madrid kommen, desto mehr steht für Finnland und Schweden die Glaubwürdigkeit der NATO als Ganzes auf dem Spiel.
Auch wenn Finnland dieses Bild gerne vermeiden würde, scheinen Finnland und Schweden zumindest teilweise zu Spielfiguren im Spiel zwischen der Türkei und den USA geworden zu sein.
Nur wenige glauben, dass das Spiel dazu führen wird, dass sich die USA zwischen Finnland und Schweden oder der Türkei entscheiden müssen - was die NATO als Ganzes destabilisieren würde.
Erdoğan denkt dabei wahrscheinlich an die türkischen Wahlen in einem Jahr, für die er vermutlich Unterstützung sammelt, indem er Ziele für seine Auftritte außerhalb des Landes sucht. Vielleicht hat die Türkei deshalb diese Woche damit gedroht, den Beitritt Finnlands und Schwedens um bis zu einem Jahr zu verzögern.
Letztlich kann nur Erdoğan die Situation lösen, und er hat es im Vorfeld der Wahlen nicht eilig.
Die USA können sich also ausrechnen, dass die finnisch-schwedische Sitaution das kleinere Übel ist als Erdoğan in die Enge zu treiben - zumindest vor den türkischen Wahlen. Das Ergebnis könnte ein noch größerer Schaden für die NATO sein, als wir es bereits erlebt haben. Bis dahin wird Finnland aber sicher bleiben, versichern uns die Amerikaner.
Und so geht das mexikanische Patt weiter. Aber auch die Risiken für Finnland wachsen: Die Weltlage könnte sich ändern, neue Konflikte könnten ausbrechen oder alte eskalieren. Jede derartige Änderung könnte das NATO-Deck noch mehr durcheinander bringen als es jetzt schon ist.
Es ist unwahrscheinlich, dass die US-Zwischenwahlen im Herbst die Außenpolitik des Landes neu gestalten werden, aber in einer zunehmend polarisierten Supermacht ist nichts unmöglich.
Die Vereinigten Staaten sind schließlich ein Land, dessen Kongress derzeit darüber debattiert, ob der vorherige Präsident am Ende seiner Amtszeit einen kläglich gescheiterten Putschversuch unternommen hat. Auch die Position des britischen Premierministers Boris Johnson, der von einem bizarren Aufruhr in den nächsten gerät, sieht nicht besonders stark aus.
Mit ihren Erklärungen vom Dienstag haben sowohl Premierminister Marin als auch die Vereinigten Staaten erneut ihre Autorität und die Erwartungen der Finnen unter Beweis gestellt, dass der NATO-Prozess spätestens auf dem Madrider Treffen vorankommen wird. Dies eröffnet der Türkei die Möglichkeit, weiter zu verhandeln, wobei die mögliche Demütigung Amerikas immer noch auf dem Tisch liegt.
Als die Türkei mit ihren Drohungen begann, fragte sich Finnland, ob die Führung zu naiv war, den Reden von Erdoğan Glauben zu schenken. Wenn in Madrid keine Fortschritte erzielt werden, wird die gleiche Frage erneut gestellt werden müssen - und zwar an die Vereinigten Staaten.
Die Menschen, die den Vernichtungskrieg in der Ukraine verfolgen, können dagegen nur abwarten und zusehen, wie der Wettstreit der Blicke weitergeht.
https://www.hs.fi/politiikka/art-2000008886688.html... in den finnischen Medien werden die ersten Stimmen laut, dass Finnland den NATO-Antrag zurückziehen sollte. Ich denke zwar nicht, dass das passieren wird, aber die Lage wird doch unentspannter 🙄