Kriminalisierung von Meinungsäußerungen statt Aufklärungsarbeit im Mordfall Marwa El-Sherbini
Die juristischen Entwicklungen nach der Ermordung El-Sherbinis in Dresden machen uns besorgt und – im wahrsten Wortsinne – betroffen. Denn sie betreffen auch uns!
Gegen die Erlanger Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer ist ein Strafbefehl wegen übler Nachrede in Höhe von 6000 EUR bzw. zwei Monaten Haft ergangen, weil sie in einem Interview geäußert habe, der Fehlschuss des Polizisten auf den Ehemann der Ermordeten müsse auf mögliche rassistische Zusammenhänge hin untersucht werden – dies wurde in verschiedenen Interviews jeweils unterschiedlich formuliert.1
Diese juristische Vorgehensweise macht uns betroffen, weil sie auch uns und unser Rechtsstaatsverständnis betrifft.
* Unabhängig davon, ob man es – wie in der Berliner Zeitung vom 5. und 6. Januar erörtert – für notwendig erachtet, dass die offenen Fragen um den Mord in Dresden weitere Untersuchungen erfordern
* unabhängig davon, ob man die pointierte Vermutung Schiffers voll inhaltlich teilt oder nicht
Es kann und darf nicht sein, dass durch juristische Einschüchterungsversuche Meinungs- und Pressefreiheit beschnitten werden! Es kann und darf nicht sein, dass freies wissenschaftliches Forschen, Denken und Spekulieren, wie hier im Kontext der Rassismusforschung, durch eine eingeengte und fachfremde juristische Vorgehensweise beschränkt werden soll, die in unseren Augen den Ansprüchen an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nur schwerlich genügt.
Es muss in Deutschland möglich sein, begründete und begründbare Beobachtungen, Thesen, Möglichkeiten und Vermutungen anzustellen - auch und gerade öffentlich, um den Erkenntnisgewinn zu befördern. Das ist die Aufgabe von Wissenschaft und auch von Medien als Vierter Gewalt. Wissenschaft und freie Presse haben von Verfassungswegen das Recht und die Aufgabe, das Parlament bei der Kontrolle die Staatsgewalt zu unterstützen und die Teilnahme des Bürgers am demokratischen Diskussionsprozess zu fördern. Auch und gerade um für Bürgerrechte und Demokratie gefährliche Tendenzen zu benennen. Die Befürchtung, dass die Polizei hier in Sachen Reflexion von in der Gesellschaft weit verbreiteten rassistischen Stereotypen ein Ausbildungsdefizit hat, ist möglich, und muss deshalb öffentlich ausgesprochen werden können. Wie sollen denn in diesem Staat Probleme gelöst werden, die ohne das Risiko der Strafverfolgung nicht mehr benannt werden können? Das Gewaltmonopol des Staates ist u.a. auch damit zu rechtfertigen, dass es dieses Recht sichert und nicht beschneidet.
Es kam immer wieder zu Übergriffen gegen die Unabhängigkeit der Vierten Gewalt: beispielhaft seien hier die Verfahren der Presserechtskammer am Landgericht Hamburg genannt sowie die sog. Cicero-Affäre von 2005, als die Staatsanwaltschaft Potsdam die Redaktionsräume durchsuchen ließ. Der Strafbefehl gegen Schiffer, der um ein Vielfaches höher ist als im Beleidigungsfall des späteren Täters Wiens gegen El-Sherbini – hat deshalb eine offensichtliche einschüchternde Wirkung, die wir auch schon an uns beobachten.
Wir fragen uns, ob nicht allein hierin bereits eine extreme Schieflage und das Messen mit zweierlei Maß deutlich werden – etwa wenn es darum geht, die Meinungsfreiheit gegenüber Muslimen zu verteidigen oder auch dann, wenn sie uns selbst weh tut. Dass es strukturellen und subtilen Rassismus an vielen Stellen in unserem Alltag gibt und dass wir entsprechend – unbewusst und ungewollt – „erzogen“ werden, ist in der Wissenschaft unbestritten.
Dabei geht es nicht darum, einzelne Personen wie den Polizisten, der auf El-Sherbinis Ehemann schoss, „an den Pranger“ zu stellen – es geht nicht um ihn persönlich, sondern um den Vorfall, der darauf hindeuten könnte, welche (mentalen) Strukturen Polizeiarbeit ganz generell beeinflussen – wie auch den Rest der Gesellschaft. In der Debatte ist der Beamte nie – auch nicht von Schiffer – persönlich oder namentlich angegriffen worden, was verdeutlicht, wie absurd der Vorwurf der „üblen Nachrede“ ist.
Wissenschaft und Medien müssen dabei behilflich sein, ein verstärktes Problembewusstsein und damit auch die Chance für Verbesserungen in der Öffentlichkeit zu pflegen.
Und dazu braucht es Menschen, die nicht besonders mutig sein müssen, sondern die ihr Grundrecht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen, um nachzudenken und um Veränderungen anzustoßen. Menschen, die hier ihre – und eben auch unsere! – Verantwortung wahrnehmen, haben ein Recht auf rechtsstaatliche Unterstützung und gesellschaftliche Solidarität.
Deshalb erklären wir uns mit Sabine Schiffer solidarisch und deshalb sehen wir uns veranlasst, uns als Aktionsbündnis gegen Rassismus und für Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit zusammen zu schließen und für rege Diskussion und Beteiligung zu werben.
http://www.solidaritaet-mit-dr-sabine-schiffer.de/index.htm (Archiv-Version vom 22.02.2010)