Vielleicht mal was Grundsätzliches:
Um sich Gedanken zur Entstehung der ersten Zelle zu machen, muss man zunächst den Begriff "Zelle" definitorisch so eingrenzen, dass man nicht in Gefahr gerät, abzuschweifen.
Wenn man mit "Zelle" so etwas meint wie z.B. ein Bakterium oder ein Pantoffeltierchen, also ein über Membranen abgegrenztes Gebilde, welches in der Lage ist, sich mit Hilfe von Stoffwechselprozessen über einen gewissen Zeitraum im Fließgleichgewichtszustand stabil zu erhalten sowie potenziell in der Lage ist, sich fortzupflanzen, indem es sich in zwei Tochtersysteme teilt, die ihrerseits die zuvor genannten Eigenschaften des Elternsystems besitzen, dann sind die Ursprünge der ersten dieser Systeme aus einem umfassenderen System erwachsen, welches diese strikte Separierung noch nicht aufwies.
Ich hatte bereits auf Richard Egels Essay verwiesen, wo dieses Vorläufersystem als "syncytisch-coenocytische kommunale Matrix" beschrieben wird. Zum Vergleich wird hierbei der Plasmodium-Zustand von Schleimpilzen herangezogen, wo viele Amöbenzellen zu einer vielkernigen Struktur ohne innere Zellmembranen verschmelzen.
In dieser "kommunalen Matrix" - unter der Voraussetzung, dass sich noch keine starr fixierten Genome etabliert hatten - war ein intensiver horizontaler Gentransfer möglich, weil die noch gegebene "Unschärfe" sowohl des genetischen Codes wie auch der Spezifität der translatierten Proteine eine Passfähigkeit ausgetauschter RNA-Sequenzen in veränderte biochemische Kontexte erleichterte, so dass die Variabilität innerhalb der Matrix sukzessive zunahm.
Erst mit der fortschreitenden Präzisierung sowohl der Code-Eindeutigkeit wie auch der Translationsgenauigkeit, so dass immer spezifischere Proteine reproduziert werden konnten, die zudem eines spezifischeren Kontextes bedurften, um entsprechend eindeutig Funktionen ausführen zu können, etablierten sich in den Randbereichen der Matrix Abspaltungen, die irgendwann auch erfolgreich entweichen konnten, um außerhalb der Matrix neue Nischen zu erschließen.
Solche "Escape-Events" fanden mindestens zweimal statt, bevor die Matrix in die Domäne der Eukarya aufging. Die früheste Aufspaltung erfolgte, als sich die Domäne Bacteria abspaltete und über r-Strategie eine reduktive Evolution hinlegte, die das Genom auf ein effizientes Maß zurechtstutzte. Das zweite "Escape-Event" erfolgte zeitlich später und brachte die Domäne Archaea hervor, welche sich bevorzugt in Regionen mit hoher Temperatur einnischte. Über weitere horizontale Gentransfers erwarben auch einige Bakterien von Archaeen Gene, die sie in die Lage versetzten, höhere Temperaturen zu tolerieren.
Weitere Details kann man dem Essay von Egel entnehmen:
http://www.mdpi.com/2075-1729/2/1/170/htmErgänzend verweise ich auf einige Arbeiten von Carl Woese, der sich ebenfalls mit diesem Thema sehr intensiv auseinandergesetzt hat:
http://www.pnas.org/content/95/12/6854.fullhttp://www.pnas.org/content/99/13/8742.fullAus all dem wird deutlich, dass dem Dasein von Zellen als singulären Individuen ein nichtsingulärer kommunaler Zustand vorausging, in dem die Voraussetzungen, dass Zellen überdauern und evolvieren können, sukzessive entstanden sind. Und dieser kommunale Zustand erwuchs wiederum aus Vorläuferstadien, in denen sich Polymere anreichern und Reaktionsnetzwerke aufbauen konnten.
Prädestiniert für solche Vorläuferstadien sind meiner Ansicht nach die Uferregionen von Gezeitenzonen, weil hier über einen periodischen Wechsel von Austrocknung und Vernässung a) Monomere herangeführt und ausgetauscht werden konnten sowie b) in Trockenphasen eine Kondensation der Monomere zu Polymeren erfolgen konnte, die ihrerseits während der nächsten Gezeitentide in Gesteinsritzen transportiert werden konnten, wo sie vor weiterem Zerfall geschützt waren - auch Sedimentschichten wären dazu geeignet gewesen.
Vielleicht kann dieser nun doch etwas lang gewordene Beitrag dazu dienen, als Basis für weitere Diskussionen herangezogen zu werden, bevor wir uns in Kontemplationen zur Relevanz der Raumzeit für die Entstehung der ersten Zelle verlieren ...