martenot schrieb:Das heißt, in meiner Jugend hat es noch viele Leute gegeben (inklusive meiner Eltern und Großeltern), die das Dritte Reich selbst bewusst miterlebt hatten. Es war damals noch nicht so abstrakt weit weg gewesen wie heutzutage.
Das ist ein wichtiger Punkt. Meine Oma erzählte immer wieder, dass der Hitler sie alle beschissen habe, er schuld am Kriegstod meines Großvaters war und sie ihre Heimat verloren habe. Erst später erfuhr ich, dass mein Großvater in die SS eingegliedert worden war und vielleicht in Russland an Erschießungen beteiligt gewesen war. Und meine Oma nur zwei Kilometer von einem KZ entfernt lebte. Das hat sie nie erzählt.
Dann war bis 1989 klar: Wenn man nicht dem Kommunismus anheim fallen wollte, war man als Deutscher besser ein guter Verbündeter in EG und NATO, zusammen mit den ehemaligen Feinden. Lieber demokratisch und liberal statt national. So war auch alles diskreditiert, was über den rechten Rand von CDU/CSU hinaus ging.
calligraphie schrieb:Nur trotzdem meine Frage , wo lliegen da die Versäumnisse der etablierten Parteien ? Hat man zu lange weggeschaut . Hat man am Anfang nicht verstanden , dass es möglich sein könnte , dass viele Menschen hier aus Frust sich zu neuen Bewegungen formieren ?
Natürlich haben die etablierten Parteien "versagt", wobei sich das so leicht dahin sagt. Denn die wurden auch gewählt, es so zu machen.
Sich zu "modernisieren" und zugleich von ihren Wurzeln zu entfernen. Die Quadratur des Kreise zu vollbringen. Das waren auch die Ansprüche der politischen Öffentlichkeit. Reform, Modernisierung, Dynamik, Flexibilität, Wirtschaftsfreundlichkeit, Multilateralismus - all das war gewollt.
Die SPD, die seit Schröder orientierungslos umherirrt und ihren Nimbus als "Schutzmacht der kleinen Leute" auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen hat. Die CDU, die unter Merkel zur konservativ-sozial-liberalen Partei wurde und bis zur Flüchtlingseinreise 2015 stabil schien. Die FDP, die sich auf neoliberale Unternehmerfreiheit beschränkte und als populistische Steuersenkungspartei versagte. Heute irrt sie zwischen AfD-Nähe und Vulgärliberalismus hin und her. Die Grünen, die Partei der moralischen Gutverdiener, mit einem bunten Bauchladen, in dem die "kleinen Leute" keine Rolle spielen.
Historisch könnte man wohl der SPD das größte Versagen anhängen. Denn als sie 1998 gewählt wurde, da war schon deutlich spürbar, dass es in vielen Bereichen der Gesellschaft gärte. Die neue Zeit seit 1990 hatte viele Verlierer, viele Ängste und die Marktkräfte entfesselt. Von 1998 bis 2005 und danach in fast 12 Jahren als mitregierende Partei, hat die SPD kein Gegenkonzept entwickelt. Keine positiven Alternativen. Ja, auch nicht ernsthaft gebremst, sondern mit der Agenda 2010 die Stimmung im Land noch kräftig verdüstert. Der Hauptverantwortliche ist heute Lakai eines russischen Potentaten und viel prominente Führungspersönlichkeiten folgten dem dicken Geld.
Der Frust, die Unsicherheit, die Orientierungslosigkeit, die Angst, die ließen die Parteistrategen aller Parteien rechts liegen, so lange sie ihre Mehrheiten von einer kleiner werdenden Wählerschar sichern konnten. "Nichtwähler, die können wir nicht zurückholen, die interessieren uns nicht. Uns interessieren nur die Wechselwähler", so hieß es z.B. bei den Parteistrategen der SPD. Ein dummer Fehler.
Die AfD hat die Nichtwähler geholt.