Abahatschi schrieb:Im vorherigen Beitrag hast Du erklärt dass wir Migration brauchen um den Sozialstaat erhalten zu können
Der Sozialstaat bzw. vor allem unser Rentensystem ist ein demographisches Solidaritätssystem.
Migration ist sowas wie ein demographischer Cheatcode.
Langfristig wird aber auch Migration das Problem nicht Lösung und wir müssen grundlegende Änderungen an der Funktionsweise bzw. vor allem Finanzierungsweise unseres Sozialstaats vornehmen.
Abahatschi schrieb:Außerdem wie willst Du gut ausgebildeten Kräften an der Migration verhindern, wenn hier jeder sich ohne Identität nieder lassen kann?
Ich will sie nicht daran hinder, ich will es nur nicht fördern.
Faire Investitionen in Afrika, die Möglichkeiten, Sicherheit und Stabilität für die Menschen dort schaffen, sind der beste Weg um Flucht zu verhindern.
Aber damit sind wir reichlich spät dran und unsere Jahrhunderte lange Ausbeutung des Kontinents führt nun dazu, dass die Menschen auf ihrer Suche nach einem besseren Leben ihren Blick auf Europa werfen.
Das ist ein legitimer Wunsch den man den Menschen nicht verwehren kann und als Land mit einem demographischen Problem sowie Landflucht und einem immer leerer werdenden Osten sehe ich hier in erster Linie eine Win-Win Situation.
Abahatschi schrieb:Und nochmal: für was dann Migration? Du schwankst zwischen "braucht man für den Sozialstaat" und "es gibt keine Jobs für alle".
Ja. Ist richtig so. Hängt davon ab welches Wirtschaftssystem wird über die nächsten 100 Jahre haben werden.
In beiden Fällen wäre Migration eine Bereicherung.
Abahatschi schrieb:Ich wüßte nicht was an diesem System falsch ist
Es ist nicht nachhaltig, es führt zu extremer Ungleichheit, es untergräbt demokratische Strukturen, es folgt dem Prinzip der Profitmaximierung anstatt gesellschaftlichen Nutzen als Ziel zu formulieren.
Der erste Punkt ist schon gravierend genug. Wenn etwas nicht nachhaltig ist, dann bricht es früher oder später zusammen bzw. zerstört die Grundlage auf der es aufgebaut ist.
Im neoliberalen Kapitalismus liegt das daran, dass das ganze Systeme auf ewiges, endloses Wachstum angewiesen ist und Ressourcen als unerschöpfbar und Umweltverschmutzung als irrelevant einordnet.
Versuchen wir doch mal die Zukunft vorher zu sagen:
Was passiert wenn wir so weiter machen wie bisher?
Die Globale Temperatur steigt immer schneller, der Meeresspiegel steigt, fruchtbare Zonen verschieben sich.
Die Konsequenz?
Milliarden Klimaflüchtlinge müssen ihre Heimat für immer verlassen, da sie entweder unter Wasser liegt oder nicht länger geeignet ist um Menschen zu ernähren. Das bedeutet dutzende Millionen von Flüchtlingen jedes Jahr über viele Jahrzehnte hinweg.
Absurde Kosten um neue Städte, Infrastruktur, Handelsrouten usw. zu errichten um diese massiven Völkerwanderungen zu stemmen und den Leuten neue Perspektiven zu bieten.
Oder alternative Genozide an den frei erfundenen Linien die wir auf Karten gemalt haben.
Wir haben die Wahl zwischen diesem Szenario, oder einem Systemwechsel jetzt.
Die Konsequenzen des Klimawandels werden sich nicht mehr abwenden lassen. Aber das Ausmaß der Konsequenzen lässt sich beeinflussen.
Je schneller wir handeln umso langsamer und umso weniger extrem werden die Klimaveränderungen ablaufen und Zeit ist alles hier.
Ob 500 Millionen Menschen durch steigende Meeresspiegel über 30 Jahre ihr Heimat verlieren, oder ob 100 Millionen Menschen über 80 Jahren ihre Heimat verlieren. Das macht einen riesigen Unterschied.
Wir müssen jetzt ein System finden, dass den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen ist.
Das System, dass die wir aktuell haben ist es nicht. Es hat viele der Probleme die wir jetzt haben überhaupt erst verursacht.
Wir müssen einen Weg zu Leben finden, der Wohlstand und Nachhaltigkeit auf einen Nenner bringt. Ein System, dass den Konsum verehrt kann das nicht.
All das ist eine Frage von Gerechtigkeit und Macht.
Gerechtigkeit ist ein konfuses Konzept, dass allgemein schwer zu definieren ist, uns im Einzelfall aber sagen kann welche Zustände gerecht und welche ungerecht wären.
Macht ist ein weiteres konfuses Konzept das auf vielen Ebenen wirkt und bestimmt in welche Richtung wir uns entwickeln.
Historisch gesehen war Macht stets auf wenige zentralisiert und Gerechtigkeit abhängig von deren Wohlwollen.
Seitdem es die ersten Demokratien gibt, haben wir angefangen Institutionen zu erfinden, die Macht repräsentieren sollen und die Allgemeinheit mit einbeziehen.
Wir haben aber auch Institutionen erschaffen, die Macht substituieren durch bspw. Geld und über unser Finanzsystem extrem viel Macht aus dem Griff der öffentlichen, demokratischen Institutionen entfernen.
Genau wie die Menschen in den USA gerade versuchen Gerechtigkeit einzufordern und durchzusetzen gegen ein etabliertes Machtgefüge, dass Ungerechtigkeit zur Folge hat, so werden wir alle uns gegen irgendwie geartete Machtgefügen durchsetzen müssen um Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert zumindest nicht komplett aus den Augen zu verlieren.
Neu ist diese Erkenntnis nicht unbedingt. Max Weber schreib Anfang des 20. Jahrhunderts (1904) von dem "
stahlharten Gehäuse der Hörigkeit" und meinte damit die kapitalistische Logik und Rationalität, die unser Leben und Handeln bestimmt in einer Gesellschaft die um eben jene Logik errichtet worden ist.
Er mutmaßte, dass wir Menschen darin gefangen sein werden "
bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist".
Er beendete diesen Text wie folgt:
„
Niemand weiß noch, ob am Ende dieser Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keins von beiden – mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-Nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die ‚letzten Menschen‘ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: ‚Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.‘
Letztendlich ist das alles eine Frage des Menschenbilds. Was wollen wir, was sollen wir, wie sind wir und was können wir?
Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir sie aber erstmal stellen können. Aktuell stellt sich unsere Gesellschaft nur eine Frage: Lohnt sich das finanziell?