Systemkrise 2008/2009
28.12.2008 um 13:13
Nationalökonomie
Von Kurt Tucholsky
Nationalökonomie ist, wenn die Leute sich wundern, warum sie kein Geld haben. Das hat mehrere Gründe, die feinsten sind die wissenschaftlichen Gründe, doch können solche durch eine Notverordnung aufgehoben werden.
Die Grundlage aller Nationalökonomie ist das sog. "Geld". Geld ist weder ein Zahlungsmittel noch ein Tauschmittel, auch ist es keine Fiktion, vor allem aber ist es kein Geld. Für Geld kann man Waren kaufen, weil es Geld ist, und es ist Geld, weil man dafür Waren kaufen kann. Doch ist diese Theorie inzwischen fallen gelassen worden. Woher das Geld kommt, ist unbekannt. Es ist eben da bzw. nicht da - meist nicht da.
Der Wohlstand eines Landes beruht auf seiner aktiven und passiven Handelsbilanz, auf seinen innern und äußern Anleihen sowie auf dem Unterschied zwischen dem Giro des Wechselagios und dem Zinsfuß der Lombardkredite; bei Regenwetter ist das umgekehrt. Jeden Morgen wird in den Staatsbanken der sog. "Diskont" ausgewürfelt; es ist den Deutschen neulich gelungen, mit drei Würfeln 20 zu trudeln.
Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten. Wenn die Ware den Unternehmer durch Verkauf verlassen hat, so ist sie nichts mehr wert. Dafür hat der Unternehmer das Geld, welches Mehrwert genannt wird, obgleich es immer weniger Wert ist. Wenn ein Unternehmer sich langweilt, ruft er die andern an und sie bilden einen Trust, das heißt, sie verpflichten sich, keinesfalls mehr zu produzieren, als sie können sowie ihre Waren nicht unter Selbstkostenverdienst abzugeben. Daß der Arbeiter für seine Arbeit auch einen Lohn haben muß, ist eine Theorie, die heute allgemein fallen gelassen worden ist.
Eine wichtige Rolle im Handel spielt der Export, Export ist, wenn die andern kaufen sollen, was wir nicht kaufen können; auch ist es unpatriotisch, fremde Waren zu kaufen, daher muß das Ausland einheimische, also deutsche Waren konsumieren, weil wir sonst nicht konkurrenzfähig sind. Wenn der Export andersrum geht, heißt er Import, welches im Plural eine Zigarre ist.
Jede Wirtschaft beruht auf dem Kreditsystem, das heißt auf der irrtümlichen Annahme, der andre werde gepumptes Geld zurückzahlen. Tut er das nicht, so erfolgt eine sog. "Stützungsaktion", bei der alle, bis auf den Staat, gut verdienen. Solche Pleite erkennt man daran, dass die Bevölkerung aufgefordert wird, Vertrauen zu haben. Weiter hat sie ja dann auch meist nichts mehr. Wenn die Unternehmer alles Geld im Ausland untergebracht haben, nennt man dies den "Ernst der Lage".
Die Aktiengesellschaften sind für das Wirtschaftsleben unerläßlich: stellen sie doch die Vorzugsaktien und die Aufsichtsratsstellen her. Jede AG hat einen Aufsichtsrat, der rät, was er eigentlich beaufsichtigen soll. Die AG haftet dem Aufsichtsrat für pünktliche Zahlung der Tantiemen. Diejenigen Ausreden, in denen gesagt ist, warum die AG keine Steuern zahlen kann, werden in einer sog. "Bilanz" zusammengestellt.
Die Wirtschaft wäre keine Wirtschaft, wenn wir die Börse nicht hätten. Die Börse dient dazu, einer Reihe aufgeregter Herren den Spielklub und das Restaurant zu ersetzen. Schreien die Leute auf der Börse außergewöhnlich viel, so nennt man das: die Börse ist fest. In diesem Fall kommt - am nächsten Tag - das Publikum gelaufen und engagiert sich, nachdem bereits das Beste wegverdient ist.
Zusammenfassend kann gesagt werden: die Nationalökonomie ist die Metaphysik des Pokerspielers.
Ich hoffe, dass diese Angaben so gegeben sind wie alle Waren, Verträge, Zahlungen, Wechselunterschriften und andern Handelsverpflichtungen - also ohne jedes Obligo.
Erschienen unter dem Pseudonym Kaspar Hauser in: Die Weltbühne, 15. September 1931 (leicht gekürzt)