Systemkrise 2008/2009
08.11.2008 um 22:32
Der Ernstfall mit dem Bargeld
Von Georg M. Oswald
16. Oktober 2008
Jeden Morgen auf seinem Weg ins Büro ging Kelch an den Zeitungskästen vorüber. Seit Wochen meldeten sie, zuerst unter anderem, jetzt schon mit äußerster Dringlichkeit, die Krise, die wie eine riesige Welle heranrollte. Von Ferne betrachtet, sah sie nicht besonders furchterregend aus, doch wenn sie einmal da war, ließ sie keinen Stein auf dem anderen. Doch so weit war es noch nicht, und deshalb erschien ihm die Bedrohung auch an diesem Tag ziemlich unwirklich.
Die morgendliche Herbstsonne schien, die Menschen, denen er auf dem Weg zur Arbeit in der U-Bahn begegnete, waren wohlgenährt und gutgekleidet, machten einen zufriedenen und zielstrebigen Eindruck. Sie lasen in Zeitungen und Büchern oder lauschten ihren MP3-Playern, machten einander höflich Platz, schenkten sich hier und da ein geschäftiges Lächeln. Kelch verspürte ein gewisses Unbehagen, er hätte nicht genau sagen können, warum.
Er machte einen kleinen Umweg zu seiner Bank, um Geld vom Automaten zu holen. Der Automat war betriebsbereit, Kelch schob seine Karte hinein, wurde aufgefordert seine Geheimzahl einzugeben, tat es, auf dem Bildschirm erschien die Bitte um ein wenig Geduld, der er in sicherer Erwartung seines Geldes gelassen entsprach. Dann jedoch geschah, was Kelch, wenn nicht vorausgesehen, so doch geahnt und gefürchtet hatte. "Die Auszahlung ist derzeit leider nicht möglich. Bitte wenden Sie sich an Ihren Kundenberater", meldete der Automat und spuckte Kelchs Karte aus, als wäre sie wertlos. In diesem Moment, da war er sich sicher, war die riesige, tödliche Welle angekommen.
Was würde geschehen, wenn sich in der Stadt herumsprach, dass hier kein momentaner technischer Defekt vorlag, sondern der Ernstfall? Schnell würde es sich herumsprechen, es käme zu Aufläufen vor den Bankfilialen, zu Unmutsbekundungen, ersten Handgreiflichkeiten. Wer noch Bargeld hatte, würde mit Hamsterkäufen beginnen, am Nachmittag schon würde es zu den ersten Plünderungen kommen, Bundeswehr und Bundesgrenzschutz würden ausrücken, um die innere Sicherheit mühsam aufrechtzuerhalten, trotzdem würde es bald Tauschgeschäfte, Schwarzhandel, Diebstahl, Raub, Mord und Totschlag geben. Später dann öffentliche Speisungen, Lebensmittelmarken. Und er? Kelch?
Er dachte sorgenvoll an sich und seine Familie. Was sich an Lebensmitteln im Vorratsregal zu Hause befand, reichte höchstens drei, vier Tage. Vielleicht konnten sie ein Schwein auf dem Balkon halten oder eine Ziege? Oder doch besser Hühner? Da kam der gutgelaunte Herr Müller aus der Bankfiliale, Kelchs persönlicher Kundenberater. "Guten Morgen, Herr Kelch! Sie sehen aber blass aus. Sie wollen Geld abheben? Ich habe den Automaten aufgefüllt. Jetzt geht er wieder!"
Der Autor ist Schriftsteller und Rechtsanwalt und lebt in München
http://www.faz.net/s/RubD735E5FAFF064E6995A4BAE689FEC567/Doc~EB5AB042EDE9F41BA9D9499FBB8C257A9~ATpl~Ecommon~Scontent.html
Das ganze war schon vor drei Wochen in der Samstags FAZ, es dauerte aber ein bisschen, bis das im Internet verfügbar war. Das war in der Woche nach dem 10./11. Oktober, als es richtig zur Sache ging. Hab mich köstlich amüsiert, daß die FAZ zum einen das, was wir hier z.T. denken, öffentlich ausgesprochen hat, aber eben doch nur als Kolumne...