Nach der Fertigstellung der Qinghai-Tibet-Eisenbahn ließ die chinesische Regierung analle Regierungsämter in Lhasa sowie an alle Einwohner der Stadt zwei oder drei Flaggenausteilen, die für die Eröffnungszeremonie bestimmt waren. Dazu erging die strikteAnweisung, diese zur Eröffnungsfeier auf den Hausdächern zu hissen. Die Regierungsbeamtenwarnten die Einwohner, eine Weigerung würde als Geste des Widerstandes und der Revoltegegen das Mutterland betrachtet werden. Weiter hieß es, die Regierung würde folgenschwereMaßnahmen gegen diejenigen ergreifen, auf deren Dächern keine Flaggen zu sehen seien. Daßdie tibetischen Einwohner Lhasas schließlich die chinesischen Flaggen auf ihren Dächernanbrachten, wird nur vor dem Hintergrund dieser Zwangsmaßen erklärlich.
DieTibeter machen sich schon seit langem große Sorgen wegen dieser Eisenbahnlinie. Erst zweiMonate ist es her, daß Passagierwaggons auf dieser Strecke verkehren, und schon brichteine Flut von Chinesen über Lhasa herein, die sich alle ein besseres Leben in dieserStadt versprechen. Jeder Zug, der im Bahnhof von Lhasa eintrifft, füllt die Straßen derStadt mit Chinesen, die hier ein neues Leben beginnen wollen. Die Behörden haben für sieextra Orientierungskurse eingerichtet. Man kann Hunderte chinesischer Siedler mit ihrenSchlafsäcken und ihren Habseligkeiten auf dem Rücken auf den Gehsteigen entlang derHauptstraßen beobachten, die alle auf einen Neuanfang hoffen. Es gibt Unmengenchinesischer Artisten, die Affen, Trommeln und allerlei Gepäck mitgebracht haben und mitihren Tiere auf den Straßen von Lhasa Tricks vorführen, um sich ein paar Groschen zuverdienen. Auf ähnliche Weise unterhalten chinesische Shaolin-Mönche die Menschen mitihren Darbietungen in Kampfkunst und Kungfu. Tibet ist nun endgültig demBevölkerungstransfer und der Assimilation zum Opfer gefallen. In den letzten Jahren hatdie chinesische Regierung den Zustrom von ethnischen Chinesen nach Tibet enorm gefördert.
Öffentliche Transportmittel, Taxis und Rikschas – alles wurde von denchinesischen Migranten usurpiert. Man findet kaum noch Tibeter auf diesem Sektor. DieHotels und Restaurants befinden sich alle in chinesischer Hand, und eine große Anzahl vonjungen tibetischen Männern und Frauen arbeiten für durchschnittlich 400-500 Yuan im Monatals ihre Angestellten. Offiziell als chinesische "Touristen" deklariert, gelangenUnmassen arbeitsloser chinesischer Migranten nach Tibet, von denen viele demRotlichtmilieu angehören. In der kurzen Zeit, seit die Eisenbahn nach Lhasa gekommen ist,haben die Diebstähle und Raubüberfälle beispiellos zugenommen. Was den kulturellen Aspektbetrifft, so findet man kaum mehr etwas von dem alten Stadtbild: Lhasa ist nun einetypisch moderne chinesische Stadt geworden, die wuchert und wuchert.
In letzterZeit ist Mandarin zur allgemeinen Umgangssprache auf den Straßen der Stadt geworden.Junge Leute, Kinder und sogar ältere Menschen durchsetzen die tibetische Sprache nun mitMandarin Wörtern. Die tibetische Gesellschaft wird von der Vorstellung dominiert, daßMenschen, die kein Mandarin beherrschen, zu Außenseitern werden und jenseits derMehrheitsgesellschaft und der aktuellen Entwicklungen stehen. Leider ist dies eineRealität. Selbst tibetische Metzger und Fleischverkäufer um den Potala-Palast, denTsuglag-Khang, den Ramoche Tempel und den Norbulingka sprechen nur noch Mandarin. Siehaben ihre Muttersprache schon fast vergessen. Der große freie Platz vor dem Potala undebenso der vor dem Tsuglag-Khang sind von Tausenden von Chinesen okkupiert, die von derEisenbahn hereingebracht wurden. Die chinesische Regierung behauptet, durch dieAnwesenheit der vielen Reisenden aus Zentralchina und der ausländischen Touristen, dieder Zug ins Land bringt, würden neue Verdienstmöglichkeiten für die Tibeter geschaffen.Nach ihren üblichen Verlautbarungen ist der zu erwartende wirtschaftliche FortschrittTibets so sicher wie das Zunehmen des Mondes. Unglücklicherweise hat die chinesischeRegierung dieses Ziel bei der Umsetzung ihrer Maßnahmen aus den Augen verloren. Sie iststatt dessen nur noch darauf fixiert, günstige Bedingungen für den Transfer weitererchinesischer Siedler nach Tibet zu schaffen.
Die tibetischen Wohnhäuser mitihrer traditionellen Architektur werden samt und sonders zerstört. An ihrer Stelleschießen überall seltsam anmutende Gebäude aus dem Boden. Wenn wir in Lhasa ankommen,fühlen wir uns nicht mehr in einer tibetischen, sondern wie in einer chinesischen Stadt.Chinesische Händler pflegen, kaum daß sie sich einen Monat in Lhasa aufhalten, die vomLand in die Stadt gekommenen Tibeter übers Ohr zu hauen, indem sie ihnen in Chinaproduzierte Uhren von schlechter Qualität zu überhöhten Preisen anbieten und erklären,diese seien im Ausland hergestellt worden. Wenn die Tibeter schließlich merken, daß siebetrogen wurden, haben sie keine Chance, sich gegen die Chinesen zu wehren. Sie sind ineiner vollkommen hoffnungslosen Situation gefangen. Lhasa wird inzwischen komplett vonden hereinströmenden Chinesen dominiert, und da diese in der Überzahl sind, können dieTibeter es nicht wagen, sich zur Wehr zu setzen. Sie fürchten, daß sie sich bald wie ineinem fremden Land vorkommen werden, obwohl es doch ihr eigenes ist. Sie haben aber keineWahl und müssen sich still verhalten. Wer weiß, vielleicht wird die Eisenbahn Tibet dochnoch wirtschaftlichen Fortschritt bringen?
Infolge der Qinghai-Tibet-Eisenbahn wirddie einzigartige und kostbare Kultur der Tibeter, durch die sich seit Jahrhunderten ihreIdentität und ihr Land definiert haben, dem Untergang preisgegeben. Und dieser kulturelleGenozid wird nicht zu stoppen sein. Wenn man sich die Trends und Veränderungen, die inletzter Zeit in der tibetischen Gesellschaft stattgefunden haben, anschaut, bleibt kaumRaum für Zweifel hinsichtlich der negativen Konsequenzen und dem Schaden, welche dieseEisenbahn für die tibetische Identität und Kultur gebracht hat.
http://www.igfm-muenchen.de/tibet/HRU/2006/HRU-2006-08.html