Hier, ein schöner Artikel aus der FrankfurterRundschau, dem ich jeden empfehlen kann, der sich mit dem Thema Burkaverbot auseinandersetzt.
BurkaverbotVerschleierte Bedrohung?Von Martha Nussbaum
Anfang des Monats lehnte das katalanische Parlament in Spanien knapp ein Verbot der muslimischen Burka an allen öffentlichen Orten ab - und hob damit eine Abstimmung des Oberhauses in der Woche zuvor wieder auf, das sich für ein Verbot ausgesprochen hatte. Ähnliche Vorschläge könnten bald in Frankreich und Belgien nationale Gesetze werden. Selbst das Kopftuch verursacht häufig Ärger: In Frankreich dürfen Mädchen es in der Schule nicht tragen. In Deutschland (wie in Teilen Belgiens und der Niederlande) ist es in einigen Regionen Lehrerinnen an öffentlichen Schulen verboten, es bei der Arbeit zu tragen, obwohl Nonnen und Priester in vollem Habit unterrichten dürfen. Was hat die politische Philosophie zu solchen Entwicklungen zu sagen?
Beginnen wir mit einer Annahme, die weithin geteilt wird: Dass alle Menschen die gleiche menschliche Würde besitzen. Es herrscht weitgehend Übereinstimmung, dass die Regierung diese Würde mit gleichem Respekt behandeln muss. Aber was heißt es, jemanden in Bereichen des religiösen Glaubens und religiöser Bräuche mit gleichem Respekt zu behandeln?
Fügen wir eine weitere Voraussetzung hinzu: Dass das Vermögen, mit dem jemand nach dem letzten Sinn des Lebens sucht - das häufig "Gewissen" genannt wird -, ein sehr wichtiger Teil dieser Person ist und eng mit ihrer Würde zusammenhängt. Und wir fügen noch eine weitere Voraussetzung hinzu, die wir die Verletzbarkeits-Voraussetzung nennen könnten: Dieses Vermögen kann durch schlechte weltliche Bedingungen ernsthaft beschädigt werden. Seine Aktivität kann unterbunden werden, und es kann sogar innerlich verletzt oder beschädigt werden. Die erste Art Schädigung, die der amerikanische Philosoph Roger Williams im 17. Jahrhundert mit Gefangenschaft verglichen hat, erfolgt, wenn Personen daran gehindert werden, Bräuche, die ihr Glaube verlangt, offen auszuführen. Die zweite Art, die Williams "Seelenschändung" nannte, tritt ein, wenn Personen gezwungen werden, Überzeugungen zu vertreten, die sie nicht haben, oder Glaubensgewissheiten zuzustimmen, die sie nicht teilen.
Die Verletzbarkeits-Voraussetzung zeigt uns, dass der gleiche Respekt in Gewissensfragen einen Zuschnitt der weltlichen Bedingungen erfordert, der sowohl die Glaubensfreiheit als auch die freie Meinungsäußerung und Glaubensausübung schützt. Daraus schlossen die Väter der US-Verfassung, dass der Schutz des gleichen Rechts in Gewissensfragen die "freie Ausübung" des Glaubens für alle erfordert. Was bedeutet das wirklich, und welche Grenzen dürfen religiösen Aktivitäten in einer pluralistischen Gesellschaft vernünftigerweise gesetzt werden? Die philosophischen Architekten unserer Rechtstradition konnten leicht sehen, dass dem, was jemand im Namen der Religion tut, dort einige vernünftige Grenzen auferlegt werden müssen, wo Frieden und Sicherheit oder die gleichen Rechte anderer auf dem Spiel stehen. Aber sie suchten nach einem tieferen und prinzipielleren Grundsatz für solche Grenzen und Schutzvorkehrungen.
Schon George Washington stellte die Quäker vom Militärdienst freiHier spaltet sich die philosophische Tradition. Der eine Strang, der mit einem anderen Philosophen im 17. Jahrhundert, John Locke, in Verbindung steht, meint, dass der Schutz der gleichen Gewissensfreiheit nur zwei Dinge erfordert: Gesetze, die religiösen Glauben nicht bestrafen, und Gesetze, die keinen Brauch diskriminieren, wenn in Fragen, die religiöse Aktivitäten betreffen, die gleichen Gesetze für alle gelten. Ein Beispiel für ein diskriminierendes Gesetz, sagt Locke, wäre eines, das das Sprechen von Latein in Kirchen für illegal erklärt, den Gebrauch des Lateinischen in Schulen aber nicht einschränkt. Der Sinn eines solchen Gesetzes wäre offenkundig die Verfolgung von Katholiken. Doch wenn ein Gesetz jemanden nicht in dieser Weise verfolgt, kann es bestehen bleiben, selbst wenn es zufällig einigen religiösen Aktivitäten größere Hindernisse in den Weg legt als anderen. Wenn jemand findet, dass sein Gewissen es ihm nicht erlaubt, einem bestimmten Gesetz (etwa den Militärdienst betreffend) zu gehorchen, solle er ruhig seinem Gewissen folgen, sagt Locke, müsste aber die gesetzliche Strafe dafür zahlen.
Eine andere Tradition, die mit Roger Williams, dem Begründer der Siedlung Rhode Island und Autor zahlreicher Schriften über Religionsfreiheit, in Verbindung steht, meint, dass der Schutz des Gewissens stärker sein müsse. Diese Tradition argumentiert, dass Gesetze in einer Demokratie immer von Mehrheiten gemacht werden und daher natürlich deren Vorstellungen von Zweckdienlichkeit verkörpern. Selbst wenn solche Gesetze von ihrer Absicht her niemanden verfolgen, können sie sich als sehr ungerecht gegenüber Minderheiten erweisen. In Fällen, wo solche Gesetze die Gewissensfreiheit belasten - zum Beispiel, wenn sie von jemandem fordern, an einem seiner Feiertage vor Gericht auszusagen oder vom Gebrauch einer Droge abzusehen, den sein sakrales Zeremoniell erfordert -, vertrat diese Tradition die Ansicht, dass dem Gläubigen, der einer Minderheit angehört, eine besondere Ausnahme gewährt werden sollte, die "Anpassung" genannt wurde.
Seit George Washington in einem berühmten Brief an die Quäker erklärte, dass er von ihnen keinen Militärdienst verlangen würde, weil die "Gewissensbisse aller Menschen" die größte "Behutsamkeit und Zartfühligkeit" verdienten, hat der Anpassungsansatz das Recht und die öffentliche Kultur in den Vereinigten Staaten weitgehend bestimmt. Eine Zeit lang wendete das moderne US-Verfassungsrecht einen Anpassungsstandard an, der besagte, dass die Regierung jemandes "freier Religionsausübung" ohne ein "zwingendes staatliches Interesse" (für das Frieden und Sicherheit offenkundig Beispiele sind, wenn auch nicht die einzigen) keine "gravierenden Hindernisse" in den Weg legen dürfe.
Meiner Meinung nach ist das Anpassungsprinzip angemessener als Lockes Prinzip, weil es die subtilen Diskriminierungsformen erreicht, die im mehrheitlich organisierten demokratischen Leben allgegenwärtig sind. Es hat jedoch auch seine Probleme. Eines besteht darin, dass es für die Richter sehr schwer zu handhaben ist. Fall für Fall Ausnahmen für allgemeine Gesetze zu schaffen, könnte die Kompetenz der Richterschaft übersteigen. Das andere Problem ist, dass der Anpassungsansatz meistens die Religion anderen Gründen vorgezogen hat, warum jemand eine Ausnahme vom allgemeinen Gesetz anstreben könnte. Das ist eine heikle Angelegenheit, die lange Diskussionen erfordern würde, die wir hier aber nicht benötigen, weil an den jüngsten Fällen in Europa überall diskriminierende Gesetze beteiligt sind, die nicht einmal die schwächere Lockesche Prüfung bestehen. Konzentrieren wir uns auf die Burka; die Argumente, die hierbei vorgebracht werden, können auf andere Fälle übertragen werden.
Fünf diskriminierende Agrumente für ein BurkaverbotFünf Argumente werden gemeinhin zur Unterstützung des Burkaverbots vorgebracht. Sehen wir also, ob sie alle Bürger mit dem gleichen Respekt behandeln. Erstens wird behauptet, dass die Sicherheit es verlange, dass an öffentlichen Orten alle ihr Gesicht zeigen. Ein zweites, eng damit zusammenhängendes Argument besagt, dass die Art von Transparenz und Gegenseitigkeit, die den Beziehungen zwischen Bürgern eigen ist, durch die Verhüllung von Gesichtsteilen behindert wird.
Falsch an diesen beiden Argumenten ist ihre inkonsequente Anwendung. Wie in vielen Teilen Europas wird es in Chicago sehr kalt. Auf der Straße ziehen wir unsere Hüte tief über die Ohren und Brauen, und wir wickeln uns Schals um Nasen und Münder. Keiner hat damit ein Transparenz- oder Sicherheitsproblem, und es ist auch nicht verboten, in so einer Aufmachung öffentliche Gebäude zu betreten. Mehr noch: In vielen beliebten und vertrauenserweckenden Berufen wird das Gesicht das ganze Jahr über verhüllt: Chirurgen tun es, Zahnärzte, Footballspieler, Ski- und Eisschnellläufer. Was in Europa Angst und Misstrauen auslöst, ist nicht die Verhüllung an sich, sondern die muslimische Verhüllung.
Eine vernünftige Forderung könnte darin bestehen, dass eine muslimische Frau in ihrem Führerschein oder Pass ein Foto hat, das ihr ganzes Gesicht zeigt. Doch wir wissen inzwischen, dass das Gesicht ein schlechtes Identifizierungsmittel ist. An den Einreisekontrollstellen haben Augenerkennungs- und Fingerabdruckstechnologien das Foto bereits ersetzt. Wenn diese überlegenen Technologien auch von Polizeistreifen und bei Sicherheitskontrollen auf den Flughäfen übernommen werden, können wir ohne das Foto auskommen - und ohne das, was von den ersten beiden Argumenten übrig geblieben ist.
Ein drittes, heute sehr verbreitetes Argument ist, dass die Burka ein Symbol der männlichen Vorherrschaft ist, das Frauen zu bloßen Objekten degradiert. Ein katalanischer Abgeordneter nannte die Burka kürzlich ein "erniedrigendes Gefängnis". Das erste, was man diesbezüglich anmerken sollte, ist, dass die, die dieses Argument vorbringen, meistens nicht sehr viel über den Islam wissen und nur schwer sagen könnten, was in dieser Religion was symbolisiert.
Burkagegner argumentieren inkonsequentAber die noch eklatantere Schwachstelle dieses Arguments ist, dass die Gesellschaft mit Symbolen männlicher Überlegenheit, die Frauen wie Objekte behandeln, durchdrungen ist. Sexzeitschriften, Nacktfotos, enge Jeans - durch sie alle werden Frauen mehr oder weniger zu Objekten. Und wie steht es mit dem "erniedrigenden Gefängnis" der Schönheitschirurgie? Jedes Mal, wenn ich mich in meinem Fitnesscenter umziehe, sehe ich Frauen mit den Narben von Fettabsaugungen, Bauchstraffungen und Brustvergrößerungen. Geschieht nicht vieles davon, um der männlichen Norm von weiblicher Schönheit zu entsprechen, die Frauen zu Sex-Objekten macht? Vertreter des Burkaverbots schlagen kein Verbot all dieser objektivierenden Praktiken vor. Sie sind sogar häufig daran beteiligt. Und das Verbot all dieser Praktiken aus Gleichheitsgründen wäre auch ein nicht vertretbarer Eingriff in die Freiheit. Wiederum erweisen sich die Gegner der Burka hier als ausgesprochen inkonsequent; sie legen eine Angst vor dem Anderen an den Tag, die diskriminierend ist und einer liberalen Demokratie nicht würdig. Mit Sexismus wird man mit Überzeugungskraft und Beispielhaftigkeit fertig, nicht mit der Verringerung der Freiheit.
Ein viertes Argument vertritt die Ansicht, dass Frauen nur unter Zwang die Burka tragen. Dieses Pauschalargument ist ziemlich unplausibel und wird häufig von Leuten vorgebracht, die keine Ahnung haben, in welcher individuellen Situation sich die Frauen jeweils befinden. Wir sollten entgegnen, dass alle Formen von Gewalt und physischer Nötigung im Haushalt bereits jetzt illegal sind, und dass die Gesetze gegen häusliche Gewalt und Missbrauch sehr viel bereitwilliger durchgesetzt werden sollten als bisher. Glauben die Burkagegner wirklich, dass häusliche Gewalt ein spezifisch muslimisches Problem ist? Wenn ja, irren sie sich gewaltig. Laut US-Rechtsstatistikamt machten 2001 Gewalttätigkeiten des Intimpartners 20 Prozent aller nichttödlichen Gewaltverbrechen gegen Frauen aus. Der nationalen Umfrage über Gewalt gegen Frauen zufolge, die auf der Homepage des Amtes für Rechtsstatistiken zu finden ist, geben 52 Prozent der befragten Frauen an, als Kind von einer erwachsenen Betreuungsperson und/oder als Erwachsene von anderen Tätern physisch angegriffen worden zu sein. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass in muslimischen Familien solche Gewalt überproportional stark auftritt. In Anbetracht der engen Verbindung zwischen häuslicher Gewalt und Alkoholmissbrauch könnten gläubige muslimische Familien sogar seltener betroffen sein.
Gesetzt den Fall, die Burka ließe sich statistisch mit Gewalt gegen Frauen eng in Verbindung bringen: Könnte die Regierung sie aus diesem Grund rechtmäßig verbieten? Der Oberste Gerichtshof der USA hat geurteilt, dass das Nackttanzen aufgrund seiner gelegentlichen Verbindung mit Verbrechen (auch gegen Frauen) verboten werden kann, aber es ist nicht klar, ob dieses Urteil richtig war. Burschenschaften am College weisen eine enge Verbindung zu Gewalt gegen Frauen auf, und einige Universitäten haben deshalb alle oder einige Burschenschaften verboten. Private Institutionen dürfen solche Regelungen treffen; ein völliges Verbot männlicher Trinkclubs (oder anderer Orte, an denen Männer sich betrinken, wie Fußballspiele) von Regierungsseite wäre aber eine groteske Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Was jedoch am wichtigsten ist: Jeder, der die Burka verbieten möchte, sollte seinen Vorschlag zusammen mit diesen anderen Fällen prüfen und die Konsequenzen für sein eigenes geliebtes Hobby ziehen.
In Spanien habe ich schließlich das Argument gehört, dass die Burka an sich ungesund ist, weil sie heiß und unbequem sei. Dies ist vielleicht das blödeste Argument von allen. Kleidung, die den Körper bedeckt, kann bequem sein oder unbequem; das hängt vom Stoff ab. In Indien trage ich meistens einen Salwar Kamiz aus Baumwolle, weil er wunderbar bequem ist und die völlige Verhüllung der Gliedmaßen den Staub fernhält und die Gefahr von Hautkrebs zumindest verringert. Ich bin mir nicht sicher, ob die viele Haut, die man bei typisch spanischen Frauenkleidern sieht, die Billigung der Hautärzte findet, aber offen gesagt: Wollen die Burkagegner wirklich den Versuch wagen, unbequeme und möglicherweise ungesunde Frauenkleidung insgesamt zu verbieten? Müssten wir dann nicht mit den hohen Absätzen beginnen, schön, wie sie sind? Aber nein: Hohe Absätze sind Teil der Mehrheitsnorm (und ein spanischer Exportschlager), sie ziehen keinen Zorn auf sich.
Alle fünf Argumente sind diskriminierend. Wir müssen die schwierige Frage religiös begründeter Anpassung nicht einmal anschneiden, um zu sehen, dass sie in einer der gleichen Freiheit verpflichteten Gesellschaft absolut unannehmbar sind. Der gleiche Respekt in Gewissensfragen verlangt von uns, sie abzuweisen.
(Aus dem Englischen von Christine Pries)Zur Person:
Martha Nussbaum ist Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Ihr neuestes Buch "Die Grenzen der Gerechtigkeit" erscheint im Oktober im Suhrkamp Verlag.
Quelle:
http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?em_cnt=2864262&em_cnt_page=1