Israel - wohin führt der Weg?
03.11.2011 um 10:18
Die Judenbrille und der israelische Wohnungsbau
Angenommen, nur mal angenommen, Moshe Goldstein käme nach Chemnitz, kaufte dort ein Grundstück und wollte darauf ein Haus bauen. Wenn dann, auch nur angenommen, ein deutscher Herr XYZ käme und sich darüber aufregte: "Juden dürfen in Chemnitz nicht bauen!" - dann gäbe es ein Riesentheater und der deutsche Herr XYZ wäre ein Antisemit: ein böser, schlechter Mensch. Wenn, weiter nur angenommen, Moshe Goldstein aber nach Jerusalem ginge und dort im Osten der Stadt ein Grundstück kaufen und ein Haus bauen wollte, gäbe es auch Theater von den gleichen Leuten. Nur diesmal wäre Moshe der Böse. Denn Juden dürfen in Ostjerusalem nicht bauen! Machen sie es trotzdem, dann tun sie Unrecht, gefährden den Frieden, sind Rassisten oder begehen gar Kriegsverbrechen - denn sie verletzen die legitimen Rechte des palästinensischen Volkes. Warum bloß gilt das, was in Deutschland als Antisemitismus verurteilt und u. U. juristisch verfolgt würde, warum gilt das in Ostjerusalem plötzlich als "internationales Recht"?
Wenn, zum Beispiel, Italiener oder Inder oder Türken in Deutschland Grundstücke kaufen und Häuser bauen, dann ist das die selbstverständlichste Sache der Welt. Wenn sie gar Arbeitsplätze schaffen, wird ihnen der rote Teppich ausgerollt und oft genug noch Geld hinterher geworfen. Nichts anderes haben die Juden im Nahen Osten auch getan: Sie haben Land gekauft, Häuser darauf gebaut und unzählige Arbeitsplätze geschaffen - alles (überwiegend) ganz normal und ganz legal. Aber genau dieses selbstverständliche Recht will man ihnen in Teilen des Heiligen Landes verwehren. Doch nicht nur das, denn immer, wenn es den Arabern möglich war, haben sie die Juden dort aus deren Häusern vertrieben und von deren Grund und Boden verjagt. Das war nach 1922 in Jordanien so; das war 1948 in Gaza, Westbank und Ostjerusalem so; das war letztlich auch der Fall ab 1979 auf dem Sinai und 2005 in Gaza. Und genau das ist in dem angestrebten Palästinenserstaat offenbar auch geplant.
Für die betroffenen Juden sieht das dann konkret z. B. so aus: Südlich von Jerusalem liegt das Siedlungsgebiet "Gusch Etzion". Dort gab es seit 1927 jüdische Siedlungen - auf Grund und Boden, der von Juden ganz legal gekauft worden war. Diese Siedlungen wurden mehrfach zerstört und wieder aufgebaut. 1948 besetzten die Jordanier das Gebiet und vertrieben die rechtmäßigen Besitzer. Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 kehrten die bzw. ihre Kinder und Enkel dorthin zurück und bauten ihre Siedlungen nochmals auf. Und heute sollen sie erneut von dem Land vertrieben werden, das seit 80 Jahren rechtmäßig ihnen gehört. (1)
1951 besetzten die Chinesen Tibet. Das ist bis heute umstritten und der Dalai Lama wird allgemein bedauert. Aber wann hörte man je von Protesten, weil die Chinesen dort Wohnungen bauen? Oder wo sonst hört man Klagen, daß irgendwo auf der Welt Wohnungen gebaut würden? Es sind einzig und allein die Juden, denen man das vorwirft! Wohlgemerkt: über die israelische Siedlungspolitik kann man gerne streiten. Dennoch bleibt die grundsätzliche Frage: Heute sind weit über eine Million Palästinenser Bürger des Staates Israel. Auch in Deutschland leben Millionen von Staatsbürgern "mit Migrationshintergrund". Dort wie hier gibt es jede Menge "Siedlungen", wo Menschen mit einer anderen, fremden Kultur gemeinsam leben. Warum sollte das, was in jedem demokratischen Staat ganz selbstverständlich ist, warum sollte das ausgerechnet für Juden in Palästina grundsätzlich verboten sein?
Aber immerhin, man könnte ja nun sagen: "In Ordnung, auf dem künftigen palästinensischen Staatsgebiet sollten nur Palästinenser leben und keine Juden - und
umgekehrt, in Israel sollten nur Juden leben und keine Palästinenser. Dann wären beide Seiten sauber getrennt und es gäbe Ruhe." Doch siehe da, genau die Leute, die lauthals gegen den jüdische Siedlungsbau protestieren, fordern im gleichen Atemzug den Bau von Siedlungen für Palästinenser in Israel; sprich: die Rückkehr der Flüchtlinge. Da die irgendwo wohnen wollen, müßte folglich entsprechend gebaut werden: Wohnungen für bis zu 4,6 Millionen Palästinenser auf dem Gebiet des jüdischen Staates. Das bedeutet letztlich: Für den Palästinenserstaat fordert man: "Juden raus!" und für den Judenstaat verlangt man: "Palästinenser rein!".
Es ist schon erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit im Nahen Osten nicht nur mit zweierlei, sondern buchstäblich mit völlig entgegengesetztem Maß gemessen wird. Zum Beispiel nannte Robert Spaemann in der FAZ als Bedingungen für eine Frieden in Nahost u. a.: "Israel ... beseitigt auch die bisher auf fremden Territorium gebauten Siedlungen. Ferner: Israel verzichtet auf die ethnische Selbstdefinition, die jeden Nichtjuden in diesem Staat zum Fremden macht." (2) Auf deutsch heißt das wohl: Der künftige Palästinenserstaat müsse absolut, zu 100 Prozent, ethnisch definiert werden. Juden haben dort null Rechte; sie dürfen da nicht leben; selbst ihre Häuser müssen beseitigt werden. Der Judenstaat dagegen müsse absolut, zu 100 Prozent, auf jede ethnische Definition verzichten. Menschen aus anderen Völkern sollen dort alle Rechte haben und in unbegrenzter Zahl leben können. Kurz: Araber können sich mit eisiger Konsequenz von den Juden abgrenzen; Israel dagegen müsse sich der arabischen Welt vollständig öffnen; sprich: sich darin auflösen wie eine Semmel im Ozean.
In Deutschland gäbe es Neonazis als "Dumpfbacken mit Springerstiefeln und Glatze". Viel gefährlicher aber seien "Rechte mit Schlips und Kragen", die "braunes Gedankengut" eher unauffällig verbreiten. Antisemitismus ist ein großes, oft mißbrauchtes Wort. Dennoch, auch davon gibt es eher primitive Formen mit Hakenkreuzschmierereien und Tod-Israel-Gebrüll. Aber es gibt auch einen vornehmen, gebildeten Antisemitismus triefend von Edelmut und Menschenrechtsgehabe. Der beginnt dort, wo man Juden in eine Außenseiterrolle drängt, indem man sie mit besonderen, nur für sie gültigen Maßstäben mißt. Wo man an Juden Forderungen richtet, die andere nicht erfüllen müssen. Wo man Israel Dinge verbieten will, die allen anderen Völkern erlaubt sind.
Mit anderen Worten: Antisemitismus betrachtet die Welt wie durch eine "Judenbrille". Die gibt es in den unterschiedlichsten Formen und Stärken, doch eines bleibt immer gleich: Sie sieht die weite Welt gelassen und desinteressiert, wie durch Fensterglas. Bei den Palästinensern aber wird sie zu Milchglas, da wird es schwierig, überhaupt noch etwas zu erkennen. Nur bei den Juden - da wird sie plötzlich zur Lupe. Da sieht diese Brille alles extrem scharf, supergenau und übergroß. Da erscheinen sogar jüdische Wohnungen wie riesige, furchtbare Monster, die ähnlich gefährlich sein müssen wie iranische Atombomben.
A. Rau
(1) Reusch/Gerloff "Grenzenloses Israel", S. 102
(2) R. Spaemann "Heiliges Land, friedloses Land"; FAZ v. 25. 07. 2009