Wilhelm II. - genial oder irre ?
12.12.2007 um 15:48
Die, zumindest formale, Gleichberechtigung der Juden erfolgte mit der Gründung des einheitlichen Reiches, 1871, zum ersten Male in der geschichte Deutschlands galten sie als freie und gleiche Bürger: Die Einschränkungen, die sie, von Land zu Land unterschiedlich, teilweise zu Schutzbefohlenen eines Herrschers machten und ihnen wirtschaftliche Beschränkungen auferlegten oder ihnen bestimmte Berufsverbote erteilten, waren aufgehoben. Auch der Dienst beim Militär, in Schulen oder der Justiz stand ihnen jetzt offen.
Das war lange vor Amtsantritt von Wilhelm II.
„Ich denke gar nicht daran wegen der paar hundert Juden und der tausend Arbeiter den Thron zu verlassen!“ jammerte der Regent gegen Ende seiner Regentschaft.
Der junge Prinz Wilhelm zählte zu den glühenden Bewunderern des Hofpredigers Adolf Stoecker. Dieser und seine „Christlich-soziale Partei“ werden von zahlreichen Wissenschaftlern als Begründer des modernen Antisemitismus angesehen. Sie umfasste eine Vielzahl antisemitischer, antiliberaler, konservativer und pseudo-antikapitalistischer Gruppierungen und Einzelpersonen, die sich hauptsächlich aus Berliner Handwerkern und Ladenbesitzern sowie Teilen der Intelligenz (Hochschulangehörige, Offiziere etc.) rekrutierten. In ihren Anfangsjahren wurde die „Berliner Bewegung“ von den „Deutschkonservativen“ unterstützt, die sich so eine Massenbasis verschaffen wollten. Sie profitierte außerdem von der weit verbreiteten antijüdischen und antiliberalen Stimmung in Deutschland sowie von der einsetzenden öffentlichen Diskussion um die Verantwortung des Staates für soziale Belange.
Wer's nachlesen mag:
John C. G. Röhl: „Kaiser Wilhelm II. und der deutsche Antisemitismus“. In: Wolfgang Benz, Werner Bergmann (Hgg.): Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, S. 252-285, ISBN 3-89331-274-9.
Dass sich der spätere Wilhelm II auch mit Kapitalisten jüdischen Galubens als Berater umgeben hat, die ihn z.Tl. zu aggressiven Abenteuern in der Kolonialpolitik drängten und zu härterem Vorgehen gegen die Arbeiterbewegung rieten, hat wohl weniger mit dem Anti-Antisemitismus des Kaisers als mit dessen Hang zum Kapital zu tun. Egal, ob Christ oder Jude, frei nach Willy: Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Geschäftspartner.
Was das Verhältnis Wilhelms zum Nationalsozialismus angeht, erschien vor kurzem in der Online-Ausgabe von "Cicero" ein umfassender Beitrag von Malinowski (TU Berlin), den ich nachstehend ungekürzt wiedergebe. Er beleuchtet das ambivalente Verhältnis der Hohenzollern zu Adolf Hitler & Co.:
Als die Wehrmacht Mai 1940 ihre Offensive im Westen mit dem Überfall auf die Niederlande eröffnete, kam es am nördlichen Rand der „Operation Sichelschnitt“ in der Nähe von Utrecht zu einer eigenartigen Begegnung. Eine Gruppe deutscher Infanteristen drang bis zum Landsitz eines weißbärtigen 81-jährigen Herrn vor, der die Soldaten vor seinem Haus begrüßte, mit Erfrischungen bewirtete und sich von einem Offizier die militärische Lage erläutern ließ. Der Wortlaut der Reaktion ist nicht überliefert, man darf aber vermuten, dass der dargestellte Frontverlauf mit einem „Donnerwetter, meine Herren!“ kommentiert wurde. Vier Wochen später, nach der Kapitulation Frankreichs, schickte Wilhelm II. ein Telegramm an Hitler, um ihn zu dem „von Gott geschenkten gewaltigen Sieg“ zu beglückwünschen.
Zwanzig Jahre zuvor, im November 1918, war Kaiser Wilhelm II. in einer gespenstischen Nachtfahrt über die holländische Grenze geflohen. Dem Heldentod auf dem Schlachtfeld, dem bewusst gesuchten Tod in einem letzten Angriff, der insbesondere im Adel als adäquates Ende für einen preußischen König im Untergang diskutiert wurde, hatte sich der Kaiser entzogen. Im niederländischen Exil gebot er seither in Haus Doorn über ein Miniaturreich mit groteskem Schrumpfhofstaat sowie über Wald und Bäume, von denen der agile Pensionär schon in den ersten Jahren 13000 Stück eigenhändig zersägt hatte.
In einer mit Heldensagen gemästeten Generation konnte die Begegnung am Tor von Doorn an die Kyffhäuser-Sage denken lassen: die Geschichte vom ewig schlafenden, alle 100 Jahre kurz erwachenden und sich für die Wiederkehr seiner Herrschaft bereithaltenden Kaiser. Doch Wilhelm II. wurde weder erweckt noch reaktiviert. Statt des Zwerges Alberich stellte man eine SS-Wache vor das Doorner Tor. 1940 hoffte selbst Wilhelm II. nicht mehr, der Nationalsozialismus könne jener Adler aus der Sage sein, der die Raben über dem Kyffhäuser vertreiben und seine Rückkehr auf den Thron ermöglichen würde. Acht Jahre zuvor jedoch hatte er, und mit ihm der politisch zählende Teil seines Hauses, eben dies getan.
Der historisch relevante Teil der Beziehung zwischen Hohenzollern und Nationalsozialismus spielt nicht in der Phase von Krieg und Völkermord, sondern während der Zerstörung der Weimarer Republik, der Machtübergabe und der Machtergreifung in den Jahren 1930 bis 1934.
Obwohl es einen SA-General unter den Kaisersöhnen gab, ist es richtig, dass kein Hohenzoller im Dritten Reich eine Herrschaftsposition bekleidete. Richtig ist auch, dass von vielen Hohenzollern negative Bemerkungen über den Nationalsozialismus überliefert sind. Von 1945 bis heute haben sich Hofhistoriografen und konservative Publizisten bemüht, aus diesen Äußerungen eine aufrechte Linie der Opposition zu destillieren – ohne überzeugende Ergebnisse. Im Schutz des Privaten gesprochene Kraftworte über Hitler und seine Satrapen, abfällige Urteile über Görings Pumphosen und Hitlers Haartracht können den historischen Kern der Haltung, die im Haus Hohenzollern dominierte, nicht überdecken. Gesucht und gefunden hatten die Hohenzollern die taktische und strategische Kollaboration. Als der Plan, die NS-Bewegung als trojanisches Pferd der Restauration zu verwenden, sich auch für die politisch Blindesten in der Familie als Illusion erwiesen hatte, verschärfen sich die Kraftworte aus dem Jammertal der politischen Bedeutungslosigkeit, in dem man seit 1918 hauste. Wilhelm II. hatte mit Magnus von Levetzow, Admiral a.D. und NSDAP-Mitglied, einen Generalbevollmächtigen eingesetzt, der die Hauspolitik direkt auf den Nationalsozialismus zugesteuert hatte. 1933/34 blitzten diverse Anfragen, ob und wenn ja, wann eine Restauration geplant sei, an glatten Antworten der NS-Führung ab. Mehrfach hatte Hitler seit Herbst 1933 kaiserliche Emissäre angebrüllt: Die Fürsten hätten versagt und sich als zu weich erwiesen, er benötige nunmehr 15 Jahre Zeit, während derer er freie Hand brauche. Im Januar 1934 sprengen marodierende SA-Schlägertrupps monarchistische Feierlichkeiten zum 75. Geburtstag des „kaiserlichen Herrn“. Die später gefundenen knackigen Worte des Exil-Kaisers zeugen nicht von nobler Distanz, sondern von Dünkel und Verzweiflung über die zerschlagenen Chancen der Restauration. Sie stehen für die Merkmale, die Regierungs- und Exilzeit „dieses fleischgewordenen Unglücks der neueren deutschen Geschichte vor Hitler“ (Nipperdey) generell ausgezeichnet hatten: Hybris, Unstetigkeit, Maßlosigkeit und Realitätsferne.
Der älteste Sohn des Kaisers, Kronprinz Wilhelm, taktierte zwischen Potsdam, Berlin und Schlesien wortstark und glücklos im Soziotop der radikalen Rechten, in ständiger Fühlungnahme mit den NS-Spitzen, insbesondere über Hermann Göring. An Reichswehrminister Groener hatte er im April 1932 appelliert, das „wundervolle Menschenmaterial, das in SA und SS vereinigt“ sei, nicht bei der Arbeit zu stören und stattdessen endlich einmal ein paar Kommunisten „aufs Pflaster zu legen“. Das erwähnte Glückwunschtelegramm seines Vaters an Hitler übertraf er im Mai 1940 durch ein Schreiben, das die „geniale Führung“ Hitlers pries, von „Bewunderung“ sprach und auf „Sieg Heil!“ endete.
Als unermüdliche Propagandistin für die braune Sache wirkte weiterhin die zweite, 1922 geheiratete Ehefrau Wilhelms II., Hermine geb. Prinzessin Reuß (ä.L.). Bereits in den späten zwanziger Jahren warb die Prinzessin landauf und landab innerhalb der Oberschichten für den Nationalsozialismus. Berliner Salon-Abende, auf denen „Kaiserin“ Hermine voll Begeisterung einem Führer lauschte, der in Aussicht stellte, die politischen Gegner schon bald „öffentlich strangulieren“ zu lassen, sind seit circa 1930 so zweifelsfrei dokumentiert wie das Brutalo-Deutsch, in das zahlreiche Äußerungen von Kaiser und Kronprinz abgesunken waren.
Die Bestleistung im Umfeld hochadliger Versuche, sich dem Nationalsozialismus anzudienen, erbrachte allerdings der vierte Sohn des Kaisers, Prinz August Wilhelm von Preußen. Der Prinz wurde bereits im April 1930 Parteigenosse und SA-Mitglied und wirkte fortan unter dem populistischen Kürzel „Prinz Auwi“ als Massenredner in Zirkuszelten und Bierhallen. In der SA brachte es der Prinz Ende 1933 zum Obergruppenführer. Die Dienste, die er der Bewegung als Propaganda-Gaul leistete, waren kaum bezahlbar. Wie nur wenige konnte er nach oben die Wohlanständig- bzw. Hoffähigkeit der NS-Bewegung und nach unten jene Volksgemeinschaft symbolisieren, in der Prinzen und Arbeiter im selben Bierzelt standen. Ersteren Aspekt hatte Paul Bang, ein Berater des umtriebigen Republikzerstörers und DNVP-Vorsitzenden Alfred Hugenberg, schon 1930 wie folgt formuliert: „Eine Bewegung, an deren Spitze Prinz August Wilhelm von Preußen marschiert, kann man nicht als national unzuverlässig abtun.“
Die wichtigsten Beiträge der Hohenzollern lagen in der Sphäre des Symbolischen. Den Höhepunkt dieses Beitrages bildete der pseudomonarchistische Mummenschanz am 21. März 1933, der als „Tag von Potsdam“ in die Geschichte eingegangen ist. Für die raffiniert organisierte Werbeveranstaltung im konservativen Lager, deren symbolisches Zentrum ein leer stehender, für den kommenden Kaiser freigehaltener Stuhl in der Garnisonkirche bildete, stellte das Haus Hohenzollern einen Kronprinzen in der Uniform der Totenkopf-Husaren, Prinz August Wilhelm als SA-Brigadeführer und die Prinzen Oskar und Eitel Friedrich in Stahlhelm-Grau zur Verfügung. In Doorn rief der Kaiser an diesem Tage aus: „Der Nazi-Schwung muss mitbenutzt werden!“ Preußenfreundliche Darstellungen formulieren meist, ein Teil der Familie sei vom Nationalsozialismus benutzt worden. Dies trifft funktional auch zu, richtig muss es jedoch heißen, dass sich ein Teil, und zwar der politisch bedeutsamste Teil des Hauses dem Nationalsozialismus symbolschwer zur Verfügung gestellt hatte. Ausstrahlung von Namen und Tradition der Familie waren noch immer erheblich. Nachdem in Polen und Frankreich zwei Hohenzollernprinzen an der Front gefallen waren, kam es noch 1940 zum so genannten Prinzenerlass, der die deutschen Prinzen erst von der Front verbannte und dann aus dem Offizierkorps der Wehrmacht ausschloss – allein aus der Hohenzollernfamilie betraf dies 16 Prinzen. Der Vorgang gehört bis heute zu den Kronzeugen, wenn die Diskrepanz des Hauses zum Nationalsozialismus belegt werden soll. Weit zutreffender wäre allerdings, ihn als Beleg für die beachtliche Größe des potenziellen Gegen-Charismas zu deuten, das von den Hohenzollern jedoch niemals und an keiner Stelle gegen den Nationalsozialismus in Stellung gebracht wurde.
Tatsächlich bietet die Bilanz dieser Zeit wenig, was heute geeignet wäre, zum Glanz des Hauses beizutragen. Dabei macht die Geschichte der Häuser Habsburg und Wittelsbach deutlich, dass es auch im Hochadel durchaus Alternativen zum rückgratlosen Taktieren gab. Von einem zumindest symbolisch klar distanzierten Verhalten des preußischen Herrscherhauses wären zweifellos wichtige Signale ausgegangen. Niemand kann sagen, ob und wenn ja, wie solche Signale im Adel und im Bürgertum gelesen worden wären. Eindeutig lässt sich hingegen sagen, dass diese Signale niemals gesendet wurden.