Warden schrieb:Aber das ist eben die Sache: Die Realität oder höhere Gewalt forciert Dinge. Ob die am Ende mir oder dir passen ... ist eigentlich im großen Ganzen irrelevant.
Selbst wenn unsere Analyse zu ein und demselben Schluss kommt: Es kommt eben darauf an, wie man damit umgeht. Ich komme gleich in deinem Extremismus-Teil noch mal darauf zu sprechen.
Vorher wollte ich noch eins herausstellen: Aufgabe der Politiker ist es, auf demokratischem Weg zivilisatorische Mindeststandards aufrecht zu erhalten. Ich glaube, so weit besteht zwischen uns noch Konsens.
Warden schrieb:Lange Rede, kurzer Sinn: Manchmal wird Rechtsprechung durch die Realität überholt. Dann muss man eben schauen wie man damit umgeht, weil man Dinge die vorgeschrieben sind praktisch nicht mehr im erdachten Sinne umsetzen kann.
Ich weiß nicht, was du beruflich machst, aber wenn ich dich so lese, glaube ich du bist Anwalt. Du hast ein Rechtsverständnis, Situationen zu begreifen, Probleme und Spannungen nachzuvollziehen und bist der richtigen Meinung, wenn sich ein gesellschaftlich starker Trend herausstellt, dass die Politik einen anderen Weg einschlagen muss, um gesellschaftliche (oder wirtschaftliche) Spannungen nicht anwachsen zu lassen, sondern Dampf aus dem Kessel zu nehmen, damit uns der ganze Laden nicht um die Ohren fliegt, müssen sich die Gesetze der neuen Situation anpassen, um unkontrollierbaren Schaden zu verhindern. Auch so weit gehe ich noch mit dir.
In der Frage der Flüchtlingspolitik betreten wir aber (nicht erst seit heute,. sondern eigentlich schon seit Jahrzehnten, aber zunehmend von einem großen Teil der Bevölkerung als kritisch bis nicht hinnehmbar empfunden) einen neuen Bereich, in dem nicht Gesetze, sondern gesellschaftliche und staatliche Grundlagen zur Disposition gestellt werden. Hier geht es nicht um Gesetze, sondern um das Fundament unseres Staatswesens und die Staatsform, die wir Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nennen, die auf dem Prüfstand steht.
Einige Jahre nach dem Krieg animierten die Alliierten einige führende und aus ihrer Sicht denazifizierte deutsche Politiker (wie z.B. den Kölner OB Konrad Adenauer), die sie für einflussreich hielten, den Deutschen eine demokratische Verfassung zu geben als ersten wichtigen Schritt, um ihnen die Souveränität zurückzugeben. Diese sollte so formuliert sein, dass so etwas wie die 12 Jahre davor nie wieder passieren kann. Dazu gehörten, als rechtsstaatliche nicht hinterfragbare, nicht hintergehbare Grundwerte die Grundrechte, die jeder Mensch hat und die staatlich geschützt werden müssen, also die Menschenrechte, die mit allen Mitteln des Rechtsstaats für alle hier Lebenden verteidigt werden müssen (worauf auch der viel zitierte Amtseid beruht, gleich ob bei Soldaten oder Beamten). Doiese grundrechte waren in den Artikeln 1 - 20 zum Ausdruck gebracht worden, quasi als "ewige Rechte").
Heißt: Einige dieser Artikel - allerdings nicht Art. 16 - sind unveränderbar und müssen notfalls mit Waffengewalt verteidigen werden. Hier ist auch selbst militärische Gewalt zulässig, um diese Rechte zu schützen, also im schlimmsten Fall, um einen Putsch abzuwenden. Und: Das GG unterscheidet hier nicht zwischen Deutschen und Ausländern. Die Grundrechte von allen, die auf dem Staatsgebiet leben, müssen geschützt werden.
Du sagst jetzt: Wenn wegen einem starken Andrang von Flüchtlingen die innenpolitische Situation so kritisch wird, dass sie nicht mehr länger so zu halten ist, sollten auch Grundrechte notfalls aufgehoben werden können, wenn anders der innere Frieden nicht mehr realisierbar ist. Das willst du mit Gesetzen erreichen. Damit stellst du doch gegen das GG und bist mit dieser Einstellung eigentlich ein Verfassungsfeind. Aber es gibt einen anderen Weg dieses Dilemma zu lösen, und den nannte ich auch: Eine politische Zweidrittelmehrheit zu beschaffen. Dann darfst du Artikel 16 nicht nur umändern, sondern ganz abschaffen. Aber ich sagte eben auch: Diese Zweidrittelmehrheit kriegst du nicht. Eigentlich ist bereits Seehofers Obergrenze 200.000 pro Jahr verfassungswidrig. Ich weiß nicht einmal, ob diese Sache in Karlsruhe überhaupt schon erörtert wurde, aber wo kein Kläger, da kein Urteil. dabei kommen seit 2016 gerade mal gut die Hälfte von der "erlaubten" Höhe an Flüchtlingen zu uns, aber viele rechte Kräfte, auch hier, schreien unaufhörlich so laut, als stünde der Bestand des Abendlands auf dem Spiel. Ich finde diese Situation, wie wir sie in einer ersten Hysteriewelle bereits vor 1
Jahren erleben durfte, als Sarrazin sein Hetzwerk veröffentlichte und damit auf rieseigen Zuspruch auch aus der Mitte der Gesellschaft stieß, unerträglich und frage mich, woran es liegt, dass das gros der Bevölkerung immer noch nicht bereit ist sich zivilisatorisch zu benehmen und Flüchtlinge wir Invasoren ansieht. Da muss auch in der Erziehung und im Schulunterricht grundsätzlich was falsch gelaufen sein, denn niemand ist von Geburt an rassistisch und xenophob. Hier sind wir aus meiner Sicht aber im Zentrum der Problematik, denn seit Sarrazin hat sich rein gar nichts verändert, die Sache ist nur sichtbarer geworden durch die neue Rechtspartei, die sich zwischenzeitlich gebildet hat. Ich muss da an Bert Brecht denken: Die politische Führung kann sich ihr Volk nicht aussuchen und es gegen ein anderes austauschen, wenn es ihr nicht mehr passt.
Warden schrieb:Sinngemäß: Wenn ich Feuerwehrmann bin und einen Brand lösche der sich immer mehr ausbreitet, alles steht in Flammen und das Feuer droht mir den Boden durch Zersetzung / fehlende strukturelle Integrität wegzureissen ...
Ich mag keine Analogien, besonders nicht in Zentralfragen der politischen Moral, wenn sie nur den Geist verwirren.
Warden schrieb:Ich will die Standpunkte von beispielsweise Realo nicht mal verteufeln oder als schlecht betiteln. Ich schrieb ja bereits, dass die Werte die man sich gibt nicht viel Wert haben, wenn man nicht dafür einstehen will. Das muss man also versuchen.
Aber ich finde halt, dass einen das bei höheren Mächten nicht in den Untergang reißen darf, wenn dann nichts mehr geht.
Und da führst du als Zentralproblem die Gefahr des Extremismus an:
Warden schrieb:Wenn alles für viele schlimmer wird und man als Staat und System nicht adäquat erklären aber auch gegenlenken kann oder will, so suchen vermehrt Menschen im Extremismus Halt bzw. Lösungen. Wenn alles im Staate oder System aussichtslos erscheint könnte man sich denken: "Was habe ich noch zu verlieren, kann ja höchstens besser werden." (was natürlich tückisch ist).
Von den Wechselwirkungen unter den Extremismen ganz zu schweigen.
Wir sollten uns aber einig sein, dass hier Rechtsextremismus gemeint ist, der sich federführend fühlt für die hetze gegen Flüchtlinge. früher sprach man von Ausländerhetze. Wir sie eine gruppe wie die NPD schon über ein halbes Jahrhundert betreibt ("Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!") konnte man auch schon in den frühen 1960er Jahren in Form von proto-Graffiti an den Hauswänden lesen.
Und hier verwechseln viele besorgte Bürger rechtsextreme Einstellungen mit "Bürgereinstellungen". Das geht so weit, dass ihnen nicht Verfassungsverteidiger ("Kommunisten!") als die loyalsten Vertreter von Rechtsstaatlichkeit erschein, sondern die Braunen, denn die vertreten ja offenbar die Stimme des Volkes, und hier reichen sie sich wieder mit Sarrazin die Hände. Man könnte überspitzt und im politisch inkorrekten Straßenjargon sagen: Wenn das Volk keine Flüchtlinge will, dürfen auch keine mehr kommen. das wäre dann allerdings der Sieg der Antidemokraten und der Anfang vom Ende der Rechtsstaatlichkeit.