RayWonders schrieb:wenn sich Hunderte oder Tausende treffen zu einer Demonstration weil sie Angst haben noch mehr Migranten laufen gewaltbereit mit einem Messer durch die Straßen, dann ist das eine Sache. Der Anteil von Extremisten aus den Reihen dieser besorgten Bürger die sich dann aufstacheln lassen zu Straftaten sind eine andere. Ich glaube kaum dass ein großer Anteil der Bürger die in Chemnitz demonstrierten pauschalisieren und hinter jedem Migrant einen Messerstecher vermuten und Jagd machen wollen. aber sie wollen zeigen dass es einfach untragbar ist, für viele Gemüter, beinahe jeden Monat von Messerattacken von Migranten zu hören und zu lesen. und nur hier sehen sie einen Ansatzpunkt etwas zu verändern, nämlich keine solcher Extremisten mehr ins Land zu lassen
Ich glaube, du verkennst ein wenig die Sachlage, die in Chemnitz nicht erst seit gestern herrscht.
Diese "Rechten", die dort aufmarschieren, folgen weder einer Ideologie, noch irgendeinem politischen Ansinnen, sondern entladen impulsiv ihre Gefühlslagen, in denen sie sich bereits seit der Wende verkannt sehen. Gern wird von irgendwelchen Professoren der Kriminalistik erläutert, der Rechtsextremismus insbesondere in dieser Region sei historisch gewachsen und habe seine Wurzeln im totalitären sozialistischen System. Ein Zeichen dafür, dass man sich mit dieser Region und deren Geschichte in keiner Weise auseinandergesetzt hat. Aber die Chemnitzer und jene im Chemnitzer Land sind genau dies gewöhnt. Übersehen, benutzt und vergessen zu werden.
Das, was gerade in Chemnitz passiert, hat in keiner Weise nur im Ansatz irgendwas mit Migranten oder Flüchtlingen zu tun. Es geht hier noch nicht mal um politisch motivierten Fremdenhass - wenn's wenigsten so "einfach" wäre!
Zu DDR-Zeiten war nicht Leipzig und auch nicht Dresden die Vorzeigestadt, was offenes Denken und Solidarität ausmachte, sondern Chemnitz. In keiner anderen sächsischen Stadt war der Anteil an Schwarzafrikanern, Kubanern und Vietnamesen - wohlgemerkt VOR der Wende^^ - so hoch wie in Chemnitz. In keiner anderen Stadt des heutigen Sachsens wurde bereits im Kindergarten der kulturelle Austausch und die "Solidarität" mit - ja, selbstverständlich den nicht-imperialistischen Nationen - derart vorangetrieben. Ob die zu DDR-Zeiten in Chemnitz lebenden Ausländer stets und überall vorbildlich integriert waren, mag man in Frage stellen. Fakt ist jedoch, dass Straftaten ausgeübt von oder gegen diese Ausländer auch nach Bereinigung der politischen Kriminalitätsstatistik dieses ehemaligen Regierungsbezirkes eine Seltenheit waren.
Chemnitz war ein Industriezentrum, mit einer der fortschrittlichsten Universitäten der ehemaligen DDR im Bereich Maschinenbau und Ingenieurswesen. Die halbe Stadt bestand aus Textilindustrie und war größter Arbeitgeber des gesamten Regierungsbezirks. Die Wende schließlich, die sich fast jeder dort herbeiersehnte und deren Versprechen von "blühenden Landschaften" jeder nur allzu gern glauben wollte, prägt bis heute (!) intensivst das Meinungsbild dieser Bevölkerung dort.
Diese 30-Jährigen, die dort lauthals krakelend ihre Parolen losdreschen, sind nicht im Geringsten an "den Ausländern" oder "Migranten" interessiert. Es interessiert sie auch nicht im Entferntesten, dass unter "denen" nur "Messerstecher" seien. Macht den Versuch und sprecht sie auf die "Treuhand" an, auf "Kohl", "Rente" und auf ihre Eltern. Und ihr werdet die gleichen Parolen zu hören bekommen, die sie heute dort schreien. Diese 30-Jährigen sind diejenigen, deren familiäres Aufwachsen von dem geprägt war, was ihren Eltern widerfahren ist. Die von heute auf morgen nicht nur ihren Job verloren, sondern denen offen mitgeteilt wurde, dass alles das, was sie in ihrem Leben und Beruf bislang gelernt haben, weder von Interesse, noch etwas wert ist. Die Scheidungsraten gingen nach oben, ebenso wie häusliche Gewalttaten und Suchterkrankungen.
Außenstehende mögen sagen: Ja, was wolln se denn, hätten se sich eben umorientieren müssen! Auch hier wiederum macht sich Nichtkenntnis breit, über eine Region, in der die Verwurzelung mit der Heimat (dieser Region) fast schon genetisch bedingt ist. Ein unter Chemnitzern bekannter Ausspruch ist: Verpflanze einen Chemnitzer weg von seiner Heimat und er geht ein wie eine Primel. Die, die blieben, haben sich in dem Bereich umgeschult, der ihnen von den Arbeitsämtern als "zukunftsträchtig" angepriesen wurde: Versicherungs- und Immobilienmakelei mit hoher Eigenkapitaleinbringung. Es erübrigt sich zu erwähnen, was aus diesen Existenzen geworden ist.
Mit Abschaffung des Bundesgrenzschutzes, der insbesondere der Erzgebirgsregion als solcher sehr aktiv war, gingen die Einbruchsraten rasant in die Höhe und sind es bis zum heutigen Tag. Nicht verübt von Migranten, nicht verübt von Flüchtlingen, sondern wie damals auch von tschechischen Bürgern in Grenznähe. Auch hier fühlen sich die dort Wohnenden verraten und vergessen.
Schaut euch die Videos aus Chemnitz an. Ihr seht die Generationen 30+ und am Rande, ganz am Rande scheinbar unbeteiligt die Generation 70+ stehen. Sie stehen nicht dort, damit sie mal was zu gucken haben, sondern weil sie dem zustimmen, wogegen dort protestiert wird. Und nur sie verstehen, wogegen WIRKLICH protestiert wird. Das ewige Vergessen- und Übersehenwerden, das aus ihrer Sicht seit der Wende Einzug gehalten hat. Und bevor wir uns falsch verstehen: dies hier ist weder eine Rechtfertigung dessen, was gerade in Chemnitz vor sich geht, noch eine Entschuldigung oder Richtigstellung. Sondern es ist der Ansatz, Außenstehenden das Denken der meisten dieser Leute nahezubringen, so krude und absurd auch sein mag, in welcher Dumpfheit es sich nun äußert.
Die Wende war noch kein Jahr alt und Chemnitz glich einer Ruinenstadt mit stillgelegter Industrie, die mehrheitlich von der Treuhand aufgekauft wurde, mit dem Versprechen, die Chemnitzer dort weiterhin zu beschäftigen und die Betriebe zu modernisieren. Die Realität war Arbeitsplatzverlust, Stilllegung und Verkauf der Maschinen an Investoren. Zu großen Teilen haben ehemals langjährige Beschäftigte ihren eigenen Arbeitsplatz abbauen und abwickeln müssen. Ohne ein einziges Wort der Anerkennung dafür, was sie mitunter jahrzehntelang dort geleistet haben. Noch heute reagieren Chemnitzer sehr allergisch darauf, wenn "Westdeutsche" ihnen erklären wollen, wie "marode" doch alles war und dass man doch nicht von Leistung und Arbeit in diesen "vorsintflutlichen Bruchbuden" habe sprechen können. Diesen kleinen schelmischen Unterton in Comedy-Sendungen, wenn die Dummheit des Sozialismus dargestellt wird, hören sie deutlich heraus, nicht zuletzt, wenn der dumme Quoten-Sozialist mal wieder am Beispiel eines Sachsen parodiert wird. Außenstehenden mag das nicht auffallen, aber der dabei verwendete sächsische Dialekt entstammt nicht dem Leipziger, nicht dem Dresdner Raum, sondern dem Chemnitzer Raum.
Zurück zu Investitionen. Es gab sie - auch in Chemnitz - aber jene, die versprochen wurden und an denen die eigene Existenz hing, wanderten in Hülle und Fülle nach Leipzig und Dresden. Chemnitz musste zuschauen, wie es vergessen wird. Und auch das hat sich nach der Wende u.a. auch in der schulischen Ausbildung niedergeschlagen. Es war ein immer wieder gebetsmühlenartig vorgetragenes Credo der Lehrer: Ihr müsst Hochdeutsch sprechen lernen, wenn ihr "da draußen" etwas werden wollte und ihr müsst es so gut sprechen, dass man erstmal nicht gleich heraushört, woher ihr kommt (^^). Ihr müsst es aufs Gymnasium schaffen (^^). Wir bilden euch nicht aus, damit ihr Friseur werdet, sondern damit ihr studieren
geht (^^).
Es ist erst zwei oder drei Jahre her, dass Chemnitz ein großes Erfolgserlebnis feiern durfte:
Als es erstmals Leipzig und Dresden den Rang ablaufen konnte und den Zuschlag erhielt, eine der größten Archäologiesammlungen zu erhalten und ausstellen zu dürfen.
Chemnitz war seit der Wende keine Stadt mehr, die man sehen und in der man bleiben wollte, sondern es war die Stadt, an der man vorbeifährt. Das haben die Chemnitzer bis heute gut verinnerlicht. Die, die klug genug waren, gingen. Jene, die sich nachhaltig in ihrem Benachteiligungserleben weiter suhlen wollten und mangels eigenständig etablierter oder familiärer Alternativen bleiben mussten, sehen wir heute zu großen Teilen auf der betreffenden Demo. Und ja, es sind großteils Ewiggestrige und ja, es sind Großteils Stehengebliebene. Es geht nicht um Ausländer. Es geht ihnen, meiner Meinung nach darum, sich gegen das Aufzulehnen, was ihnen vor Jahren und Jahrzehnten subjektiv (!) angetan wurde. Nicht umsonst skandieren die Rechten dort pausenlos, den "Ausländern" würde alles in den A... geschoben werden, währen die "Deutschen" das Nachsehen hätten. Nicht umsonst werden Fake-News verbreitet, "die Ausländer" würden sich an "unseren Mädels" vergehen. Es ging und geht seit Jahren in dieser Stadt immer nur um ein Thema: UNS wird etwas weggenommen! WIR sind denen da oben egal. WIR erhalten nie Wiedergutmachung.
Um nichts anderes geht es diesem Mob, für den man sich schämen muss und der seit Jahren nicht begriffen hat, sich mit dem was war, wirklich auseinanderzusetzen.