@Nevrion Nevrion schrieb:Wie Schulz die SPD an die 30 % heran führen will, ist mir bisher nicht klar geworden. Wirklich substantielles hab ich von ihm jedenfalls noch nicht gehört.
Er wird versuchen, der SPD wieder Konturen zu geben. Als Juniorpartner in der großen Koalition war und ist die SPD quasi zum Mitregieren verdammt. Die Lorbeeren (oder die Diesteln) erntente immer die Bundeskanzlerin, während die SPD durchgehend im Schatten stand und gleichzeitig Schelte für ihre vermeintliche Tatenlosigkeit (auch aus den eigenen Reihen) erhielt. Schlimmer noch, in der Wahrnehmung vieler Menschen sind CDU und SPD -zumindest als Regierende- zu einem Einheitsbrei vermengt worden. Die große Koalition war trotz einiger Erfolge schädlich für das Ansehen der SPD; was sich entsprechend auch in den Wahlumfragen wiederspiegelt.
Jetzt kommt also der Schulz daher und will die Partei aus der Versenkung holen. Das kann er bei der Vielfalt an polarisierenden Themen und großer Unzufriedenheit mit der Partei selbst oder dem System meiner Ansicht nach bloß schaffen, wenn er als Person und mit Hilfe von ausgeprägtem Charisma überzeugen kann. Es wird nicht reichen, wenn er klassische SPD-Positionen beschwört - das kann Merkel mittlerweile auch. Viel wesentlicher wird sein, ob er authentisch und mit dem nötigen Feuer die Sympathien auf seine Seite ziehen kann, und das permanent während des gesamten Wahlkampfes. Ich halte das für unwahrscheinlich, aber nicht für unmöglich.
Als Schulz bei Anne Will gesessen und seinen ersten großen Auftritt als Kanzlerkandidat vor großem Publikum absolviert hat, war ich mir mehrfach nicht sicher, ob er sich tatäschlich authentisch präsentiert hat. Dass er auch mit Herzblut an die Sache rangeht, möchte ich nicht bestreiten, aber ich möchte wissen, was er konkret als Bundeskanzler umzusetzen gedenkt - und mit wem er koalieren würde. Es kann dann ja nur auf Rot-Rot-Grün hinauslaufen oder auf Rot-Schwarz, mit der SPD als Mehrheit in der Regierung. Ersteres wäre vermutlich eine instabile Regierung (anzunehmen, wenn drei Parteien mitmischen), Letzteres wäre vielleicht interessant, allerdings hat man wieder ein ähnliches Gefüge wie vorher. Wobei alles interessant ist, was Nicht-Mehr-Merkel bedeutet.
Jedenfalls war das, was man bisher von Schulz hören konnte, klar auf die arbeitende Bevölkerung, spez. die arbeitende Mittelschicht, gemünzt. Er sprach von höheren Mindestlöhnen, Tarifverträgen und von Vermögensungleichheit. Er hat Themen angesprochen, die viele Menschen beschäftigt und die die SPD, als immerhin mitregierende Partei, bislang auch nicht befriedigend lösen konnte. Das war aber alles noch allgemein gehalten, vieles davon Phrasen, auch wenn Emotionen miteingebaut wurden sowie ein ernster Blick und Betroffenheit. Nun können wir ja nicht erwarten, dass Schulz in den ersten Tagen nach Ankündigung seiner Kandidatur ein abschließend ausgereiftes Wahlkampfprogramm präsentiert. Daran werden er und seine Leute jetzt zu arbeiten haben.
Bleibt es bei diesen Allgemeinplätzen, wird das nichts mit dem Kanzlersein, da bin ich mir persönlich recht sicher. Merkel steht zumindest für etwas. Man verbindet sie mit Handlungen und Taten. Gabriel & Co. dagegen weniger. Und so muss sich die SPD jetzt erstmal aus dem Morast ziehen, um wieder als eine Partei dazustehen, die sich deutlich von der CDU abgrenzt. Um es mal etwas auszuschmücken: Sie muss Bilder malen und Visionen zeichnen. Das vermisse ich allerdings insgesamt bei allen Parteien. Wenn man sich anschaut, wie sich unsere Welt verändert, Stichwort: Digitalisierung, dann scheint es mir so, als würde die Politik fast nur noch getrieben von Innovationen, Wirtschaft, Ereignissen und kaum gestalterisch tätig. Wie auch immer.
Wenn Schulz mit frischen Vorschlägen und vor allem konkreten Versprechen auftritt, wenn die SPD allgemein beginnt, sich wieder zu emanzipieren, und wenn Schulz wirklich Emotionen einfangen kann, dann besteht theoretisch die Chance, dass die SPD wieder nach vorne kommt. Aber das wird ein harter Weg werden - nicht nur für Schulz. Ich würde es mir wünschen, weil ich die Demokratie in der gegenwärtigen Lage ohne präsente Sozialdemokraten gefährdet sehe.