Anschlag mit LKW auf Berliner Weihnachtsmarkt

@Rick_Blaine

Rick_Blaine schrieb:Die Einstellung war in Deutschland auch vor der Erfindung der "Täter-sind-alle-Opfer-der-bösen-Kindheit-Theorie" verbreitet: selbst als "Kopf ab" noch die vorherrschende Lösung von Kriminalitätsproblemen war, wurde das Opfer nie an einem Verfahren beteiligt, nie befragt, nie in den Mittelpunkt gestellt.

Stimmt, damit hast Du recht. Man kann schon froh sein, daß Vergewaltigungsopfern
nicht mehr vorgehalten wird, selbst schuld daran zu sein.

Rick_Blaine schrieb:Einer meiner ersten Prozesse ging um den Tod eines 15-jährigen Mädels das ausgerechnet an Weihnachten von einem besoffenen Autofahrer totgefahren wurde. Ich war geschockt, dass in der ganzen Hauptverhandlung keine Minute dahingehend "verschwendet" wurde, auch nur einmal das Mädel vorzustellen.

Öhmja..das ist eine schlimme Sache...aber für den Prozess wäre die Vorstellung des Mädchens vollkommen irrelevant gewesen.

Opfer und Täter hatten keinerlei Beziehung wenn es wirklich ein Autofahrer war der im Suff jemanden totgefahren hat.

Also wofür wäre das nötig gewesen?

Um die Richter zu beeinflussen eine härtere Strafe auszusprechen?
Dem Täter noch mehr Schuld zu machen?
Ihn noch mehr zu ächten?

d.fense schrieb:im Gepäck zwei gefälschte Pässe

Gehts noch? Was muss bitte passieren bis so jemand, wie auch immer, aus dem Verkehr gezogen wird?

@Nerok
Das ist genau der Punkt. Ganz nüchtern und sachlich betrachtet ist es richtig, es spielt im Verfahren keine Rolle, wer das Mädel gewesen ist. Sie fuhr auf einen Mofa durch das Dorf, der Besoffene übersah sie und fuhr sie tot. Die Beweislage war klar und unbestritten. Erledigt.

Aus vielen Gesprächen mit Angehörigen oder mit lebenden Opfern weiss ich aber, dass es ihnen ein Anliegen ist, im Gerichtsverfahren das Opfer einmal vorzustellen. Einmal deutlich zu machen, dass da ein einzigartiger wertvoller Mensch sein Leben verloren hat, selbst wenn es keinen direkten Einfluss auf das juristische Verfahren hat.

Das wird z.B. in den USA durch das sogenannte "Victim Impact Statement" ermöglicht: Das Opfer erhält am Ende des Verfahrens die Gelegenheit, ein statement abzugeben. Viele Opfer sagen mir, dass ihnen das der wichtigste Teil des Verfahrens ist.

@troublerin77

troublerin77 schrieb:Jetzt reagiert man erst und es sollen 2000 Polizisten eingestellt werden. Dies passiert aber frühestens in drei Jahren, da sie ja auch erst noch ausgebildet werden müssen.

Man hat Jahre zuvor daran gearbeitet Personal einzusparen, ganz krass auch bei der Polizei. Dann hat man festgestellt dass das keine sehr gute Idee war, aber nun muss der Nachwuchs erst ausgebildet werden.

@Rick_Blaine
Wenn ich mich mal einmischen darf..
Das Statement wird aber bei der Urteilsbegründung berücksichtigt, das Opfer darf teilweise sogar beim Strafmaß mit entscheiden bzw. seine "Empfehlung" abgeben. Das kann man doch nicht wollen.
Wie nerok gesagt hat, was spielt es für eine Rolle ob das ein super liebes Mädel war, das Klavierunterrericht nahm und sich für den Tierschutz engagierte, oder regelmäßig kiffte und Mitschülerinnen mobbte?
Das Gericht ist doch keine Trauerbewältigung. Alle für den Fall relevanten Punkte werden ohnehin gehört werden.

@TatzFatal
Jup, sehe ich auch so. Ich konnte früher schon nicht verstehen, warum ausgerechnet bei der Polizei gespart wird.

@Rick_Blaine

Ich bin keine Juristin und kann dazu nicht so viel sagen, aber hat das vielleicht etwas mit den Geschworenen zu tun? Es macht schon einen Unterschied, ob man einen Richter von der Schuld ueberzeugen muss, oder eine repraesentative Auswahl von Normalbuergern aus der Umgebung. Ich hatte schon laenger das Gefuehl, dass in Laendern, in denen es Geschworene gibt, eher emotional argumentiert wird.

@Rick_Blaine

Rick_Blaine schrieb:Das wird z.B. in den USA durch das sogenannte "Victim Impact Statement" ermöglicht: Das Opfer erhält am Ende des Verfahrens die Gelegenheit, ein statement abzugeben. Viele Opfer sagen mir, dass ihnen das der wichtigste Teil des Verfahrens ist.

Ja, das kenne ich auch aus US-Serien, wie z.b. Medical Detectives, wenn da auch
über den Prozess berichtet wird, in dem dann die forensischen Beweise, über die
berichtet wurde, vorgelegt wurden.

Entweder das Opfer, oder aber, wenn das Opfer tot ist, können die Angehörigen
ein Statement abgeben. Das finde ich sehr gut.

@vincent
Ohne das zuweit OT führen zu wollen

vincent schrieb:Das Statement wird aber bei der Urteilsbegründung berücksichtigt, das Opfer darf teilweise sogar beim Strafmaß mit entscheiden bzw. seine "Empfehlung" abgeben. Das kann man doch nicht wollen.

Genau den Aspekt hat man inzwischen in der deutschen Praxis ebenfalls eingeführt: in Deutschland durch das Instrument der Nebenklage.

Aber das Interessante ist, dass in meiner Erfahrung, das gar nicht das Hauptanliegen der Opfer bzw. Angehörigen ist: sie wissen schon, dass der Staatsanwalt juristisch "ihre" Seite vertritt, aber was sie wollen, ist dem Opfer im Verfahren ein "Gesicht" geben.

@inci2
@AnnaKomnene

Ja, wobei es in Deutschland über die Nebenklage inzwischen auch möglich ist, sich im Prozess einzubringen, aber es gibt eben wieder einen klaren Unterschied: In der Nebenklage vertritt ein Rechtsanwalt das Opfer.

Dem Opfer bzw. den Angehörigen geht es aber oft darum, selbst die eigenen Gedanken auszusprechen. Die Zuschauerrolle aufzugeben.

@Rick_Blaine
Ich kann das aus der Sicht der Opfer völlig nachvollziehen. Ich würde in einem solchen Fall auch gerne zu Wort kommen, vielleicht auch, weil der Prozess ja so was wie ein Abschluss ist.

@Rick_Blaine
Der Täter-Opfer-Ausgleich ist für das Aussprechen etc. der geeignetere Weg, denke ich.. für alles andere sind dann mMn Psychologen die richtigen Ansprechpartner. Aber ja, ist schon ziemlich ot.

@troublerin77

Genau so ist es.

@vincent

Ja, aber es hat eben schon etwas mit der gesellschaftlichen Mentalität zu tun, daher der Zusammenhang mit dem heutigen Artikel zu den Opfern von Berlin.

Ein anderer Aspekt macht das z.B. auch deutlich: In den USA gibt es bei den allermeisten Polizeibehörden und den Staatsanwaltschaften eine eigene Abteilung: den "victim coordinator." Die Aufgabe dieser ist es, die Opfer während der gesamten Dauer des Ermittlungs- und Strafverfahrens zu betreuen, vor allem als Ansprechpartner und als Quelle von Informationen.

Das gibt es so z.B. in Deutschland auch nicht.

@troublerin77

troublerin77 schrieb:Jup, sehe ich auch so. Ich konnte früher schon nicht verstehen, warum ausgerechnet bei der Polizei gespart wird.

Verstehen nicht, es muss nur gespart werden.
Deutschland ist ein reiches Land, die Steuereinnahmen letztes Jahr hoch wie nie, aber Geld ist keins da. Angeblich geht es Deutschland so gut wie noch nie seit Kriegsende, aber Geld für Polizei, marode Straßen zu erneuern, oder genügend Sozialhilfe damit die Leute nicht hungern müssen, ist nicht da, und die Tafeln haben nicht mehr genug Lebensmittel um den Leuten etwas geben zu können. Aber die Zahl der Bedürftigen explodiert zunehmend.
Das Opfer in Deutschland kein Gehör finden, wundert mich nicht. Menschenleben zählt nicht, und Deutschland vergisst seine eigenen Leute.

@TatzFatal
Naja, aber so geht es doch ganz vielen Menschen. Die armen in der Gesellschaft sind immer die Verlierer. In kaum einem Land wird sich um die Armen gekümmert. Ich denke, dass es in Deutschland zwar nicht sehr gut ist, aber doch noch ganz vernünftig zu geht. In vielen Ländern der Welt bekommen Arme gar keine oder nur sehr wenig Unterstützung.

Ich kann trotzdem nicht nachvollziehen, warum gerade an Polizei und auch bei Kindern gespart wird. Ohne Polizei wären wir verloren und die Kinder sind unsere Zukunft. Bei Umweltsachen schreit jeder nach Nachhaltigkeit, warum nicht bei den Kindern.

Aber das ist jetzt mehr als OT

@Rick_Blaine
Ja, da bin ich bei dir. Eben das wird von den Opfern bzw. den Angehörigen wohl auch angeprangert. Das ist von fehlender Anteilnahme der Politiker, des Bundes zu hören und von mangelnder Koordination. Ich sehe aber keinen Grund, das in den Gerichtssaal zu tragen.

Rick_Blaine schrieb:Ich glaube, das geht tiefer. Ich habe 9/11 in New York gelebt und miterlebt, wie dort mit der Tatsache der Opfer umgegangen wurde, ich habe Paris nach den schweren Attentaten erlebt... Die Opfer stehen viel mehr im Mittelpunkt. Die Gesellschaft als Ganzes fühlt sich traumatisiert.

In Deutschland habe ich das Gefühl, man lebt nach der Devise "der Indianer kennt keinen Schmerz." Trauer wird versteckt, muss privatisiert werden.

Was mir im Vergleich zu 9/11 aufgefallen ist ist, dass in Deutschland weniger die Teilhabe an der Trauer, der Wut ect. im Vordergrund steht, sondern viel mehr Warnungen.

Warnung vor pauschalen Urteilen gegenüber Muslimen, Flüchtlingen. Warnungen dass die Terroristen gewinnen wenn wir nun Angst haben. Warnungen dass wir unsere Freiheit aufgeben und die Terroristen gewonnen haben, wenn wir irgendwo 3 Kameras installieren....

Ich war damals nicht in den USA, war auch zu jung, aber was ich so mitbekommen habe, war das nicht der Tenor in den USA.
Da war irgendwie mehr der Zusammenhalt spürbar, der dann in Patriotismus mündete.

insideman schrieb:Warnung vor pauschalen Urteilen gegenüber Muslimen, Flüchtlingen. Warnungen dass die Terroristen gewinnen wenn wir nun Angst haben. Warnungen dass wir unsere Freiheit aufgeben und die Terroristen gewonnen haben, wenn wir irgendwo 3 Kameras installieren....

Ich war damals nicht in den USA, war auch zu jung, aber was ich so mitbekommen habe, war das nicht der Tenor in den USA.
Da war irgendwie mehr der Zusammenhalt spürbar, der dann in Patriotismus mündete.

Richtig, ich versuche es mal so zusammenzufassen: In den USA war damals klar, dass die Welt von nun an anders sein wird. Man betonte ganz stark den Zusammenhalt und die Solidarität mit den Opfern. An fast jedem Haus in New York sah man damals Poster mit den Worten "United we stand"

In Deutschland ist die Reaktion m.E. genau umgekehrt: man versucht alles um den Eindruck zu vermitteln, dass sich nichts verändert habe. Am besten alles, was geschehen ist, ignorieren und weiter von einer heilen Welt träumen.

@insideman
Warnungen vor pauschalen Urteilen etc. sind gerade Bestandteil des Zusammenhalts. Das steht der Situation in den USA nicht entgegen, im Gegenteil. Man verurteilt gemeinsam den Terror, die Angst und den Zwiespalt, den die Terroristen säen möchten.