Das europäische Mittelalter - Fragen, Antworten, Diskussionen
08.05.2016 um 12:59
Für mich ist das MA das große Lehrbeispiel dafür, in welch ungeheurem Ausmaß Kriege und Kleinstaaterei eine Zivilisation, so es sie vorher schon gab, zerstören kann oder, falls sie vorher noch nicht entwickelt war, verhindern. Und wie lange es braucht, um aus vorzivilisatorischen Verhältnissen herauszukommen; welch ungeheure Anstrengungen dazu notwendig sind. Auch ohne die Pest wäre der Zivilisationsprozess kaum schneller verlaufen. Zwar hat die Pest mehr Menschen dahingeraft als sämtliche Kriege zwischen Antike und Beginn der Neuzeit, aber die Kriegsfolgen, etwa des 30-jährigen Kriegs, hatten für die Zivilisationsbildung wesentlich nachhaltigere negative Auswirkungen als die Pest.
Es brauchte nicht weniger als 1½ Jahrtausende, ehe Europa zivilisatorisch wieder den Stand erreichte, den das Römische Reich zu seiner Hochzeit (etwa im 1. Jahrhundert) hatte. Erst mit Beginn der Neuzeit konnte die europäische Zivilisation – im Gegensatz zu außereuropäischen Zivilisationen – gegenüber der Hochzeit des Römischen Reichs einen entscheidenden Schritt voran machen.
Dieser 1½ Jahrtausende währende Zivilisationsbruch markierte den unsichtbaren Übergang von der mediterranen Antike zu einem Europa, dessen Kraftzentrum sich in genau jener Region bildete, in der sich, erneut 500 Jahre später, die EWG formierte und damit – zumindest bis heute – der Beginn einer Zivilisation, die ohne Krieg auskommt, zumindest auf ihrem eigenen Terrain. Es zeigt, dass selbst in unserer schnelllebigen globalisierten Welt und Zeit Zivilisationsprozesse, die unter einem anderen Aspekt als dem des technologischen Fortschritts gemessen werden, etwa das Bildungsniveau und die soziale Sicherung, Zivilisationsfortschritt extrem langsam verläuft.
Das MA ist gekennzeichnet durch Machtverhältnisse, deren Zentren woanders lagen als in Europa. Hier sind besonders China herauszuheben und die arabische Welt nach dem Eintritt des Islams in die Religionsgeschichte. Während sich in Mitteleuropa die Völker bekriegten und die Franken sich vergeblich bemühten das Karolingerreich zusammen zu halten, blühte in Spanien mit dem Emirat, später dem Kalifat von Cordoba eine Kultur, die mindestens den Stand der Hochzeit des Römischen Reichs erlangt hatte und zumindest architektonisch – schaut man sich etwa die Mezquita in Córdoba oder die Alhambra in Granada an – über die Baukunst des Römischen Reichs hinausging; da hilft auch kein Colosseum.
Während bei uns also tiefstes MA herrschte, durchzogen von provinziellen Kleinkriegen und dem so häufig vergeblichen Versuch, große Machtzentren (Karolingerreich, Reich der Ottonen) zu bilden und zu erhalten und auch kulturell voranzukommen, wurde außerhalb Europas bereits Welthandel betrieben; entlang der afrikanischen Ostküste etwa waren nicht nur die Araber äußerst aktiv, sondern sogar die Chinesen.
Aber es liegt an unserer auch heute noch eurozentrischen Geschichtssicht, nach der die Neuzeit erst mit Christoph Columbus begann und den Eroberungszügen seiner Nachfolger auf den Weltmeeren, die eine globale Betrachtung des MA immer noch äußerst schwierig gestaltet oder gar verhindert. Während mit dem Zusammenbruch des Römischen Reichs die Kultur in Europa für mehr als ein Jahrtausend zerfiel, ist dieser Kulturbruch anderswo in der Welt nicht festzustellen. Selbst die indigenen Völker in Zentral- und Südamerika (Maya, Inkas und Azteken) waren zu jener Zeit kulturell weiter als Europa.
Es wird aber wohl noch einige Zeit bleiben, bis in den Geschichtsbüchern und im Geschichtsunterricht in den Schulen, selbst in Nord- und Südamerika, der eurozentrische Blickwinkel durch einen globalen ersetzt wird. Dann erst wird sich zeigen und auch ins Bewusstsein der Völker eindringen, dass eine europäische Kultur und Zivilisation eigentlich erst mit Christoph Kolumbus begann, während sie überall sonst in der Welt – abgesehen von Afrika und Australien – schon wesentlich früher begann. Insgesamt weniger kriegerisch als bei den europäischen Völkern, denn auch der Siegeszug Europas nach Kolumbus war eigentlich nichts mehr als ein europäischer Feldzug mit dem Schwert in der einen und der Bibel in der anderen Hand, eine modernere Version der mittelalterlichen Kreuzzüge. Auf unsere europäische Geschichte können wir – sowohl bezogen auf die Amnesie des dunklen Mittelalters als auch auf die kriegerische Moderne der Neuzeit – nicht besonders stolz sein.
Aus diesen Gründen finde ich das Vorhaben des TE, die Betrachtung des Mittelalters auf Europa zu fokussieren und zu konzentrieren, kontraproduktiv. Vielmehr sollte man die Perspektive endlich mal so weit öffnen, dass man das ganze Bild sieht, global, auch um Zivilisationsbrüche und Zivilisationsbildung besser verstehen zu können. Die eurozentrische Sichtweise ist das größte Hindernis, um zu dieser erweiterten historischen Perspektive gelangen zu können.