Hartmann von Aue - Der arme Heinrich

Mal zurück ins ausgehende 12. Jahrhundert, als sich der "Buchgelehrte" Hartmann von Aue mit einer kleinen Verserzählung an einer Adaption des Hiob-Stoffs probierte, die zwei hochinteressante Ebenen vermittelt.


1. Die Ebene des Glaubens und der Liebe

Ein mit allen Vorzügen eines idealen Ritters ausgestattete Schwabe Heinrich (schön, reich, tugendsam, freigebig, höflich) wird vom Aussatz (Lepra) befallen, gibt sich aber mit der Krankheit nicht als Gottes Schicksal ab, sondern reist zu Ärzten in Frankreich und auf Sizilien. Ohne Hoffnung auf Heilung verprasst er sein Vermögen und zieht sich auf sein letztes kleines Gut, das ein fleißiger Bauer führt, zurück. Dort verliebt er sich in die jüngste der Töchter des Bauern, findet mit ihr zu Gott zurück und wird geheilt. Beide heiraten.


2. Die Ebene des Wahnsinns und der Kinderhochzeit

In Salerno offenbart Heinrich, dass er nur geheilt werden kann, wenn eine gläubige mannbare Jungfrau sich bei lebendigem Leib herausschneiden lässt und er das Herzblut als Medizin erhält. Und nein, Hartmann kannte die Azteken damals noch nicht.

Diese Geschichte erzählt Heinrich auch am Bauernhof, und die in Heinrich unsterblich verliebte und ihm dauernd nachlaufende achtjährige Tochter der Bauernfamilie nimmt sich dies zu Herzen. Als sie elf ist, beschließt sie, sich für Heinrich opfern zu lassen, damit er als Gutsherr weiterhin für die vielköpfige Bauernfamilie sorgen kann und sie selbst einen Platz im Himmel erhalten kann. Das irdische Leben sei sowieso aus Not und Plage nur ein einziges Mühsal. Und sie wolle nicht auf einen Platz bei Gott verzichten.

In langen und sprachlich hochstehenden Monologen kann das Mädchen ihre verzweifelten Eltern überzeugen, sodass sie sogar denken, dass durch sie Gott selbst spricht. Heinrich willigt ein.

Also reist Heinrich mit der Elfjährigen zu dem Arzt nach Salerno, der sie zu sich in eine geschlossene Kammer holt, sie über die Prozedur aufklärt, um sie doch noch umstimmen zu können. Aber alles hilft nichts, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, also fesselt er sie nackt an einen Tisch und beginnt das Messer zu wetzen. Dies hört Heinrich vor der Türe und erspäht durch ein Loch das nackte Mädchen, und von Liebe ergriffen stürmt er in die Kammer, um den Arzt zu stoppen. Das Mädchen wehrt sich lautstark, da sie das Paradies verloren glaubt, doch durch eine Spontanheilung Heinrichs erkennt sie, dass Gottes Willen sich erfüllt hat.

Heinrich und die Bauerntochter kehren zurück ins Schwabenland und heiraten unter großer Anteilnahme der adligen nicht nichtadligen Bevölkerung.

Eine durch den Hamburger Universitätsprofessor Hartmut Freytag ins Neuhochdeutsche übertragene Version ist hier einzusehen:
http://germanistik.doomby.com/medias/files/hartmann-von-aue-der-arme-heinrich-bokos-z1-.pdf (Archiv-Version vom 20.09.2018)