Für das Industriegebiet des Donbass, einst der Stolz der Sowjetunion, steht ein schmerzhafter Strukturwandel am Horizont. Die Politik kann diesen verzögern, aber nicht aufhalten. In jedem Integrationsszenario kommt die Schwerindustrie unter Druck.
«Wo sollen wir hin? Nach rechts, zu Russland, oder nach links, zur EU? So stellt sich die Frage nicht. Sondern: Kommen wir hoch, oder fallen wir tief?», sagt in entschiedenem Sprachduktus eine sonore Stimme. Sie gehört zu Serhi Tihipko, einem Politiker und früheren Bankfachmann, der Präsident der Ukraine werden möchte und in Radio- und Fernsehspots für seine Sache Werbung macht.
Gretchenfrage Integration
Tihipko war lange Zeit ein Spitzenvertreter der namentlich in der industriellen Ostukraine stark verankerten Partei der Regionen, dem einstigen politischen Vehikel des nun entmachteten Präsidenten Janukowitsch. Für die Wahlen kandidiert er nach einem Zwist mit seiner Partei als Unabhängiger, aber mit starkem Fokus auf deren Stammgebiet im Osten des Landes. Dass er in seinem Wahlkampfspot der integrationspolitischen Gretchenfrage elegant aus dem Weg zu gehen sucht, hat deshalb seine Logik. Denn daran kann er sich höchstens die Finger verbrennen.
Als Vizeministerpräsident für Wirtschaftsfragen von 2010 bis 2012 in der Administration Janukowitsch war Tihipko massgeblich an der Ausarbeitung des Assoziations- und Freihandelsvertrags zwischen der EU und der Ukraine beteiligt gewesen. Und noch Anfang Dezember des vergangenen Jahres, als sich Janukowitsch bereits unter dem Druck Russlands von der Unterzeichnung der Abkommen mit der EU distanziert hatte, vertrat er als Vizevorsitzender der Partei der Regionen die Meinung, die Ukraine dürfe sich im Interesse ihrer jungen Generation vom westlichen Integrationskurs nicht abwenden.
Mit solchen Äusserungen ist in der Ostukraine und namentlich dem von Schwerindustrie gekennzeichneten Donezker Becken (Donbass) allerdings wenig Staat zu machen. Zwar gibt es junge Leute aus städtischer Umgebung wie etwa die Wirtschaftsstudentin Wiktoria Bondar, die nebenher jobbt und auch schon Erfahrungen mit selbständiger unternehmerischer Tätigkeit hat («irgendwie muss man sich ja über Wasser halten»). Sie blickt nach Westen, hat klare Vorstellungen davon, was sie vom Leben will und vor allem auch was sie nicht will: eine von klientelistischen – einige würden sogar sagen: mafiosen – Strukturen eingeschnürte Gesellschaft.
Kohle und Stahl
Doch das Gesicht des Donbass ist generell ein anderes. Die Region lebt immer noch von ihrem Selbstverständnis als industriellem Kernland früher der Sowjetunion und heute der Ukraine. Die Kohlevorkommen gehören mit wirtschaftlich abbaubaren Reserven von 10 Mrd. t zu den grössten Europas. Sie sind unübersehbar; sogar mitten im Zentrum der Millionenstadt Donezk gibt es kaum einen Ort, wo man nicht eine der unzähligen Abraumhalden der Kohlegruben im Blickfeld hätte.
Die Kohle des Donbass wiederum ist der Rohstoff für Stromproduktion und eine extensive Stahlindustrie. Laut Kommentatoren arbeiten jedoch namentlich die staatlichen Minen defizitär, sind in schlechtem Zustand und für die Arbeitnehmer gefährlich. Die Stahlindustrie leidet an ungenügenden Investitionen, produziert zu wenig effizient und verliert damit in einem härter werdenden globalisierten Wettbewerb an Konkurrenzfähigkeit. Das ist für die Ukraine insofern ein Problem, als Stahl traditionell zu den wichtigsten Exportartikeln gehört. 2013 wurden laut dem International Steel Statistics Bureau 24,6 Mio. t an Stahlprodukten exportiert (2012: 24,0 t; 2006: 30,3 t), die 28% der Exporteinnahmen generierten.
Kohle und Stahl: Diese zwei Sektoren gaben den Industriearbeitern des Donbass zu Sowjetzeiten «Heldenstatus» und der Region ein Selbstbild als Wirtschaftsmotor. Die Identifikation mit der Sowjetzeit ist auch heute noch stark, und man versteht sich als diejenigen, die mit ihrer Wirtschaftskraft «den Rest des Landes ernähren».
Triste Landschaft
Dies jedoch ist nur noch Legende. Der Donbass sei im Gegenteil eine der am stärksten von der Zentralregierung unterstützten Regionen, sagte unlängst der Gouverneur des Donezker Gebiets, Serhi Taruta, in einem Medieninterview. Natürlich sei es so, dass der Donbass 25% des ukrainischen Bruttoinlandprodukts generiere. Doch werde zu wenig bedacht, dass dies noch nicht heisse, dass dabei auch Gewinn erwirtschaftet werde. Taruta spricht dabei nicht aus dem hohlen Bauch. Bevor er als politischer Krisenmanager in den Gouverneurssessel gehievt wurde, galt sein primäres Interesse dem Industriekonglomerat ISD Corporation, das er mit einem russischen Partner besitzt.
Eine Fahrt durch den Donbass zeigt bald, wieso von Aussenstehenden die Region nicht als industrieller Dynamo gepriesen, sondern als «rust belt» («Rost-Zone») abqualifiziert wird. Das Bild, das sich jenseits der Glitzermeilen der grossen Zentren bietet, ist desolat. In mittelgrossen Industriestädten wie Kostjantiniwka oder Slowjansk, die zwischen 50 000 und 500 000 Einwohner zählen und von denen es im Donbass rund ein Dutzend gibt, fährt man an einem verlotterten Industriebetrieb nach dem anderen vorbei. Die Mehrheit der Bevölkerung wohnt in bröckelnden Plattenbauten. Depressiv wirken auch die ländlichen Siedlungen zwischen den gesichtslosen industriellen Zentren, auch wenn ihnen gerade Sonnenschein und blühende Bäume ein freundlicheres Antlitz geben. Auf den kleinen Äckerchen vor den Häusern arbeiten nicht selten gebückte Pensionäre, um mit eigenem Anbau irgendwie noch über die Runden zu kommen.
Verbreitete Sowjetnostalgie
Hier haben die Menschen andere Sorgen, als sich integrationspolitische Fragen zu stellen. Und wenn, dann blicken sie nach Osten. Man fürchtet den Verlust vieler Arbeitsplätze, sollten die traditionellen Verbindungen der Schwerindustrie zu Russland leiden. Die im Donbass weitverbreitete Sowjetnostalgie wird vor diesem Hintergrund verständlicher, wenn sie auch kaum einen zukunftstauglichen wirtschaftlichen Entwicklungsansatz darstellt.
Schaut man allerdings auf die Exportstatistik von Metinvest, dem grössten ukrainischen Stahlproduzenten und traditionell einem der 30 grössten weltweit, so gäbe es auch für die Bevölkerung des Donbass sehr wohl Grund, eine Annäherung an die EU zu begrüssen. Laut dem jüngsten Jahresbericht von Metinvest , einem Unternehmen unter dem Dach der System-Capital-Management-Holding des Oligarchen Rinat Achmetow, gingen im vergangenen Jahr 24% der Exporte nach Europa (2012: 22%) und nur 12% in Länder der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (2012: 15%).
Exponierter Maschinenbau
Durch einen Kiewer Westkurs verwundbarer als die Stahlindustrie erscheint die ebenfalls vorwiegend in der Ostukraine angesiedelte Maschinenbauindustrie, namentlich für den Fall, dass der Kreml versucht sein sollte, mit handelspolitischen Massnahmen eine nicht nach seiner Pfeife tanzende Ukraine wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Ukrainische Unternehmen haben in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion eine starke Stellung etwa beim Bau von Lokomotiven und Eisenbahnwagen, Flugzeug- und Schiffsmotoren oder Turbinen für Kraftwerke. Viele dieser Fabriken sind ausserordentlich stark exportorientiert und dabei namentlich auf den russischen Markt fokussiert. Weitere enge Verbindungen bestehen im Bereich der Rüstungsindustrie (siehe Kasten).
Gegenseitige Abhängigkeit
Mit dominanten Positionen in ihren jeweiligen Sektoren sind viele ukrainische Industrieunternehmen jedoch auch für ihre russischen Abnehmer wichtige, nicht leicht zu ersetzende Partner. Schlagen politische Überlegungen auf die Wirtschaft durch, so hat das auch für russische Unternehmen Folgen, wenn sie auch kaum so gravierend ausfallen würden wie für ihre ukrainischen Zulieferer.
Aufgrund der industriellen Verflechtungen und Abhängigkeiten müsste Russland eigentlich ein Interesse an einer prosperierenden Ukraine haben, unabhängig davon, in welche Richtung sich diese integrationspolitisch auch bewegt. Der Donbass hingegen geht mit seiner Schwerindustrie-Struktur in jedem Fall auf komplizierte Zeiten zu. Restrukturierungen und Effizienzsteigerungen sind unumgänglich, und das Augenmerk der staatlichen Wirtschaftspolitik dürfte sich zunehmend auf zukunftsträchtigere Sektoren verschieben – angesichts steigender Lebensmittelpreise etwa auf die Landwirtschaft.
Ein Bumerang?
Die im Donbass laut gewordene Forderung nach mehr politischen und wirtschaftlichen Kompetenzen zur regionalen Selbstverwaltung ist zwar nachvollziehbar und auch berechtigt. Doch scheinen sich ihre Urheber wenig im Klaren darüber zu sein, dass das «Arbeiten auf eigene Rechnung» in einer Region, die vom Zentralstaat substanziell subventioniert wird, schnell einmal zum Bumerang werden könnte. Die Charkiwer Juristin Ljudmila Klotschko hat gegenüber der Forderung einer «Föderalisierung» der Ukraine auch andere Bedenken. Im gegenwärtigen Umfeld bedeute dies eine Schwächung der ohnehin angeschlagenen staatlichen Strukturen und bedeute damit die Erhaltung der Macht lokaler Seilschaften.
Solche sind, besonders nach vier Jahren der praktischen Monopolisierung der zentralen Macht durch den «Donezker Clan» um Ex-Präsident Janukowitsch, namentlich im Donbass stark ausgebildet. Von einer transparenteren, auf westliche Mechanismen sich zubewegenden ukrainischen Wirtschaft hätten die lokalen Barone nicht unbedingt Positives zu erwarten. Eine engere Anbindung an Russland bis hin zu einem Beitritt zum Eurasischen Wirtschaftsraum würde ihnen eher erlauben, ihre Macht zu erhalten. Ob der Wirtschaftsentwicklung der Region, und damit den Interessen der Bevölkerung des Donbass, damit längerfristig gedient wäre, ist aber eine ganz andere Frage.
http://www.nzz.ch/wirtschaft/wirtschafts-und-finanzportal/der-donbass-sucht-sein-heil-im-osten-1.18295681 (Archiv-Version vom 25.05.2014)