Unruhen in der Ukraine
28.04.2014 um 20:55
Das Eurasische Schachbrett
"Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem
eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und
Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat
zur Umwandlung Rußlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist
Russland kein eurasisches Reich mehr. Es kann trotzdem nach
einem imperialen Status streben, würde aber dann ein vorwiegend
asiatisches Reich werden, das aller Wahrscheinlichkeit
nach in lähmende Konflikte mit aufbegehrenden Zentralasiaten
hineingezogen würde, die den Verlust ihrer erst kürzlich erlangten
Eigenstaatlichkeit nicht hinnehmen und von den anderen
islamischen Staaten im Süden Unterstützung erhalten würden.
Auch China würde sich angesichts seines zunehmenden
Interesses an den dortigen neuerdings unabhängigen Staaten
voraussichtlich jeder Neuauflage einer russischen Vorherrschaft
über Zentralasien widersetzen. Wenn Moskau allerdings
die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen
Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum
Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland
automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes
Reich zu werden. Verlöre die Ukraine ihre Unabhängigkeit,
so hätte das unmittelbare Folgen für Mitteleuropa
und würde Polen zu einem geopolitischen Angelpunkt an der
Ostgrenze eines vereinten Europas werden lassen.
...
Eine Politik für ein geeintes Europa wird sich außerdem
– wenn auch gemeinsam mit den Europäern – der hochsensiblen
Frage nach Europas geographischer Ausdehnung stellen
müssen. Wie weit sollte sich die Europäische Union nach
Osten erstrecken? Und sollten die Ostgrenzen der EU zugleich
die östliche Frontlinie der NATO sein? Ersteres ist
mehr eine europäische Entscheidung, wird sich aber unmittelbar
auf eine NATO-Entscheidung auswirken. Diese allerDas
Eurasische Schachbrett 81
dings betrifft auch die Vereinigten Staaten, und die Stimme der
USA ist in der NATO noch immer maßgebend. Da zunehmend
Konsens darüber besteht, daß die Nationen Mitteleuropas sowohl
in die EU als auch in die NATO aufgenommen werden
sollten, richtet sich die Aufmerksamkeit auf den zukünftigen
Status der baltischen Republiken und vielleicht bald auf den
der Ukraine.
...
Eine Politik der USA gegenüber den wichtigen geopolitischen
Angelpunkten Ukraine und Aserbaidschan kann dieses
Problem nicht umgehen, daher sieht sich Amerika, was das
taktische Gleichgewicht und die strategische Zielvorstellung
angeht, in einer Zwickmühle. Russlands innenpolitische
Erholung ist die wesentliche Voraussetzung für seine
Demokratisierung und letztlich für seine Europäisierung.
Aber jede Erholung seines imperialen Potentials wäre beiden
Zielen abträglich. Zudem könnte es über diese Fragen zu
Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vereinigten Staaten
und einigen europäischen Staaten kommen, besonders bei einer
Erweiterung von EU und NATO. Sollte Russland als Anwärter
auf eine Mitgliedschaft in einer diesen beiden Strukturen
in Betracht gezogen werden? Und was wäre dann mit der
Ukraine? Bei einem Ausschluss Russlands könnte der dafür zu
entrichtende Preis hoch sein – die Russen würden sich in ihren
Vorurteilen und Ängsten bestätigt fühlen, eine Art von selffulfilling
prophecy griffe um sich –‚ aber eine Aufweichung der
EU oder der NATO könnte sich nicht minder destabilisierend
auswirken.
...
Amerikas zentrales Ziel
Für die USA lautet die zentrale Frage: Wie baut man ein
auf der deutschfranzösischen Partnerschaft basierendes, lebensfähiges
Europa, das mit Amerika verbunden bleibt und den
Geltungsbereich des demokratischen Systems internationaler
Zusammenarbeit erweitert, auf das ihre wirkungsvolle Wahrnehmung
seiner globalen Vorrangstellung so sehr angewiesen
ist? Es geht also nicht darum, die Wahl zwischen Deutschland
oder Frankreich zu treffen. Ohne Deutschland wird es ebensowenig
ein Europa geben wie ohne Frankreich. Aus den bisherigen
Ausführungen ergeben sich drei Schlussfolgerungen:
1. Das Engagement der USA für die Sache der europäischen
Einigung ist vonnöten, um die moralische
und Sinnkrise, die Europas Lebenskraft geschwächt
hat, wieder wettzumachen, um den weit verbreiteten
Verdacht der Europäer, Amerika wolle letztendlich
gar keine wirkliche europäische Einheit, zu entkräften
und um dem europäischen Unterfangen die notwendige
Dosis demokratischer Begeisterung einzuflößen.
Dies erfordert ein klares Bekenntnis Amerikas, Europa
als seinen globalen Partner zu akzeptieren.
2. Kurzfristig ist eine taktische Opposition gegen die französische
Politik und eine Unterstützung der deutschen
Führungsrolle gerechtfertigt; langfristig wird ein geeintes
Europa zu einer klareren politischen und militärischen
Identität finden müssen, wenn ein echtes Europa tatsächlich
Wirklichkeit werden soll. Dies erfordert eine gewisse
Annäherung an den französischen Standpunkt hinsichtlich
der Machtverteilung in den transatlantischen Institutionen.
3.Weder Frankreich noch Deutschland ist stark genug, um
Europa nach seinen Vorstellungen zu bauen oder mit Russland
die strittigen Probleme zu lösen, die eine Festlegung der geographischen
Reichweite Europas zwangsläufig aufwirft. Dies
erfordert ein energisches, konzentriertes und entschlossenes
Einwirken Amerikas besonders auf die Deutschen, um die
Ausdehnung Europas zu bestimmen und um mit – vor allem
für Russland – derart heiklen Angelegenheiten wie dem etwaigen
Status der baltischen Staaten und der Ukraine innerhalb
des europäischen Staatenbundes fertig zu werden.
...
Irgendwann zwischen 2005 und 2010 sollte die Ukraine
für ernsthafte Verhandlungen sowohl mit der EU als auch
mit der NATO bereit sein, insbesondere wenn das Land
in der Zwischenzeit bedeutende Fortschritte bei seinen
innenpolitischen Reformen vorzuweisen und sich deutlicher
als ein mitteleuropäischer Staat ausgewiesen hat.
In der Zwischenzeit wird sich wahrscheinlich die deutschfranzösisch-
polnische Zusammenarbeit, vor allem im Bereich
der Verteidigung, beträchtlich vertieft haben. Die Zusammenarbeit
könnte der westliche Kern weiterer europäischer Sic
herheitsvereinbarungen werden, die schließlich sogar Rußland
und die Ukraine einbeziehen möchten. Angesichts des besonderen
geopolitischen Interesses, das Deutschland und Polen an der
Unabhängigkeit der Ukraine haben, ist auch durchaus denkbar,
daß die Ukraine allmählich in das Sonderverhältnis zwischen
Frankreich, Deutschland und Polen eingebunden wird. Bis zum
Jahr 2010 könnte sich die 230 Millionen Menschen umfassende
deutsch-französisch-polnisch-ukrainische Zusammenarbeit zu
einer Partnerschaft entwickelt haben, die Europas geostrategische
Tiefe verstärkt.
...
Es kommt nun sehr darauf an, ob sich das oben skizzierte
Szenario friedlich entwickeln kann oder in den Sog zunehmender
Spannungen mit Rußland gerät. Den Russen sollte
beständig versichert werden, daß ihnen die Tür zu Europa
offensteht, ebenso wie die zu seiner späteren Beteiligung
ihres Landes an einem erweiterten transatlantischen Sicherheitssystem
und vielleicht in fernerer Zukunft an einer neuen
transeurasischen Sicherheitsstruktur. Um diesen Beteuerungen
Glaubwürdigkeit zu verleihen, sollten die Zusammenar128
Die einzige Weltmacht
beit und der Austausch zwischen Rußland und Europa auf allen
Gebieten ganz bewußt gefördert werden. (Rußlands Verhältnis
zu Europa und die Rolle der Ukraine in diesem Zusammenhang
sind im nächsten Kapitel ausführlicher dargelegt.)"
—Zbigniew Brzezinski, 1997