Ich kommentiere mal den Artikel von Focus, für den Fall, dass Leute diesem Schundblatt glauben:
http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/sucht/langzeitstudie-ueber-20-jahre-finger-weg-von-cannabis-so-gefaehrlich-ist-kiffen-wirklich_id_4189727.htmlAllgemeines zum Artikel:
Ich habe mal nach Publikationen von Wayne Hall gesucht und keine aktuellen (im Sinne von innerhalb der letzten Monate veröffentlicht) Studien/Papers von ihm zu Cannabis gefunden, die den Inhalt des Artikels haben. Sprich: Die Erkenntnisse sind nicht neu. Die Veröffentlichung, auf die sich der Artikel bezieht, ist wahrscheinlich folgende zusammenfassende (!) Veröffentlichung aus 2013:
http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/dta.1506/full1. ABHÄNGIGKEIT: Cannabis entfaltet bei täglichem Konsum über einen längeren Zeitraum dieselbe Suchtwirkung wie Heroin oder Alkohol. Der Studie zufolge entwickelte einer von sechs Jugendlichen, die regelmäßig einen Joint rauchten, Anzeichen einer Abhängigkeit. Bei Erwachsenen lag die Quote bei eins zu zehn.
Wo Focus.de diese Aussage her hat? Phantasie. Niemand, der sich auch nur mehr als einen Nachmittag mit Sucht/Drogen beschäftigt hat, wird eine Cannabisabhängigkeit mit einer Alkohol- oder Heroinabhängigkeit gleichsetzen. Selbst die Veröffentlichung von Hall kommt auf sehr unterschiedliche Abhängigkeitswahrscheinlichkeiten (auf Lebenszeit des Konsumenten bezogen): 32% Nikotin, 23% Heroin, 17% Cokain, 15% Alkohol, 11% Stimulanzien(?, "stimulant users"), Cannabis 4-8%. 23=15=8?
2. DROGENLAUFBAHN: Cannabis ist eine Einstiegsdroge. Die Hemmschwelle, härtere Drogen wie Heroin, Kokain oder Methadon zu konsumieren, sinkt bei regelmäßigem Cannabis-Genuss.
Dass Cannabis eine Einstiegsdroge sei, konnte nie empirisch nachgewiesen werden. Die Logik, dass der Gateway Effekt durch die Zusammenlegung des Marktes von harten und weichen Drogen entsteht, ist viel einleuchtender. Oder dass legale Drogen den Einstieg bilden. Aber einfach etwas als Fakt darzustellen was den eigenen Idealen näherkommt ist viel einfacher.
Studie zu diesem Thema:
http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1046/j.1360-0443.2002.00280.x/abstract?deniedAccessCustomisedMessage=&userIsAuthenticated=false3. SEELE UND GEIST: Cannabis verdoppelt die Risiken von Psychosen und Schizophrenie – vor allem bei Menschen, in deren Familie schon einmal psychotische Störungen aufgetreten sind. Zudem führt Kiffen zu Entzugserscheinungen wie Angstzustände, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Depressionen.
Das ist zum Teil sogar mal richtig. Risiko für Psychosen nimmt je nach Studie um 1.4 bis um die 4 zu. Wichtiger zu wissen ist jedoch, dass wahrscheinlich jeder Risikofaktor additiv eingeht. Sprich: Jemand mit Kindheitstrauma hat bei Cannabiskonsum ein noch höheres Risiko.
Was aber haben in diesem Abschnitt aber die Entzugserscheinungen zu suchen?
Studien zu diesem Thema:
DOI 10.1007/s40429-014-0018-7
Manrique-Garcia et al.,2012
Davis et al., 2013
4. HERANWACHSENDE: Cannabis bremst im Wachstumsalter die geistige Entwicklung. Die Studienergebnisse deuten auch darauf hin, dass Jugendliche, die regelmäßige kiffen, häufiger einen geringeren Bildungsstand haben, als ihre Altersgenossen. Ein kausaler Zusammenhang sei jedoch wissenschaftlich nicht erwiesen.
Bremst geistige Entwicklung? Die Studie würde ich gerne mal lesen. Ich kenne keine.* Das mit dem geringeren Bildungsstand stimmt soweit, aber ich weiß nicht wie die Kontrollgruppe in der australischen Studie ausgesehen hat. Da ergeben sich massive Probleme, die die Studie nutzlos machen können. Aber die Kausalität dieses Zusammenhangs ist ja eh nicht geklärt bzw. wird es auch bleiben.
* Rational kann man aber argumentieren, dass sozial zurückgezogene, jugendliche Schwerstkonsumenten keine vernünftigen Sozialkompetenzen u.ä. ausbilden können. Das liegt aber nicht direkt an der Droge.
5. SCHWANGERSCHAFT: Cannabis kann zu reduziertem Gewicht bei Neugeborenen führen. Frauen sollten daher auf keinen Fall während der Schwangerschaft kiffen.
Frau sollte natürlich während der Schwangerschaft auf alle schädlichen Einflüsse verzichten. Aber bisher sind keine gravierenden Folgen des Cannabiskonsums während der Schwangerschaft bekannt - sonst würde hier nicht nur auf die Reduzierung des Geburtsgewichtes hingewiesen werden.
6. KRANKHEITEN: Cannabis kann bei regelmäßigem Konsum Krebs, chronische Bronchitis und Herzinfarkte verursachen.
Cannabis verursacht keinen Lungenkrebs. Das haben die letzten drei veröffentlichten Metastudien zu diesem Thema gezeigt. Andere Krebsarten wurden meines Wissens nach nicht in größerem Umfang untersucht. Prostatakrebs kann laut drei Studien verursacht werden, wobei andere Großstudien generell kein Krebsrisiko mit Cannabiskonsum assoziieren.
Studien zu Krebs:
http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1046/j.1360-0443.2002.00003.x/fullhttp://link.springer.com/article/10.1023/A:1018427320658Zur Krebsverursachung wird aber generell kritisiert:
Several limitations of previous studies include possible underreporting where marijuana use is illegal, small sample sizes, and too few heavy marijuana users in the study sample.
Epidemiologic review of marijuana use and cancer risk
"
http://www.alcoholjournal.org/article/S0741-8329(05)00112-6/abstract"
Chronische Bronchitis ist korrekt, aber nur bei starkem Konsum angezeigt. Herzinfarkt ist eine ganz komplizierte Sache. Hierzu gibt es eine Studie, die einen direkten Mechanismus gefunden hat, die darauf schließen lässt. Sprich: Es gibt eine Wechselwirkung mit Inhaltsstoffen von Cannabis, die selbst direkt zu einem Herzinfarkt führen kann. Das wurde in vitro gezeigt. Habe die Studie aber gerade nicht zur Hand. Ansonsten führt Cannabiskonsum zum gesteigerten Puls, was vor allem für ältere Semester (50+) gefährlich wird. Indirekt führt Cannabis also auf jeden Fall zu einem gesteigertem Herzinfarktrisiko. In der eingangs erwähnten Zusammentragung von Hall wird von einem vierfachen Risiko innerhalb der ersten Stunde nach dem Konsum gesprochen - bei weniger als 4000 Patienten mit Herzkreislauferkrankung.
Falls der Artikel wirklich auf der Veröffentlichung von Wayne Hall und Louisa Degenhardt basiert, dann schießt er vollkommen am Ziel vorbei. Nicht nur, weil er Behauptungen als Fakten darstellt, sondern weil die Veröffentlichung viel interessantere Risikofaktoren enthält, als die, die in diesem Artikel beschrieben wurden.