@Maya108 Prolog
Mit schlurfenden Schritten ging eine dunkel gekleidete Person die Straße entlang.
Der schwarze Kapuzen-Pullover war am Rücken bereits nassgeschwitzt und der alte Parker-Rucksack rieb an den Schultern.
Die Straße machte seit zehn Minuten einen langsamen, aber stetigen Anstieg.
Fransen der ausgewaschenen Jeans schleiften auf dem Asphalt.
Der Weg lag einsam und verlassen vor ihr. Nur einzelne Bäume zierten die Straße.
Die Gestalt wanderte weiter, bis sie zu einem hüft hohen Zaun kam, der am anderen Ende das Grundstück angrenzte.
Dahinter lag eine grüne Wiese, die nach einem kurzen Anstieg zu diesem riesigen Anwesen führte. Doch von hier aus konnte man die Dimensionen nicht einmal erahnen.
Über den Zaun oder direkt zum Eingang?
Die Person entschloss sich für die Abkürzung.
Es war seit einem Jahr wahrscheinlich niemand mehr anwesend, der das Gelände überwachen oder pflegen würde.
Mit schnellen Schritten überquerte die Gestalt deshalb die Straße und war mit einem Satz über den Zaun gesprungen. Sie blieb nicht stehen sondern lief sofort weiter.
Das Gras unter den Sohlen ihrer Sneaker- Sportschuhe war weich und federte ihren Lauf.
Die Gestalt wurde schneller und es schien ihr, als würde die Zeit verschwimmen.
„Halt!“
Eine harte Männerstimme ließ sie abrupt stehen bleiben.
Die Gestalt beugte sich nach vorn und rang nach Atem.
„Wer sind Sie? Können Sie sich ausweisen?“
Schwere Schritte waren hinter ihr zu hören. Die Schlüssel an einem riesigen Schlüsselbund klapperten bei jeder Bewegung bedrohlich.
„Nehmen Sie die Hände hoch und drehen Sie sich schön langsam zu mir um.“
Gehorsam drehte die Person sich um und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Der Rucksack klimperte leise. Den Kopf hielt sie unter der Kapuze verborgen und hatte das Gesicht nach unten gebeugt.
„Ich wusste gar nicht, dass hier noch Wachposten aufgestellt sind. Du bist immer noch im Dienst, Percy?“
Der Mann war erstaunt, dass merkte man an seiner Reaktion. Er fragte scharf:
„Wer sind Sie?“
Da hob die Gestalt langsam den Kopf und der Wachmann Percy blickte in zwei helle blaue Augen einer jungen Frau.
„Großer Gott“, entfuhr es ihm und er ließ beinahe seine Taschenlampe fallen.
„Tamisha, bist du das?“
„Ja, ich bin’s. Kann ich die Arme runter nehmen?“ fragte die junge Frau.
„Natürlich. Selbstverständlich“, stammelte der ältere Wachmann und musterte sie eindringlich.
Die junge Frau schwieg und blickte auf den Boden.
„Warum bist du hier eingedrungen? Du hättest vorher anrufen können, Mädchen.“
Über das Gesicht der jungen Frau huschte ein kleines Lächeln.
„Sei mir nicht böse, Perc“, sagte sie dann und blickte ihn an. “Aber eigentlich wollte ich ganz allein hier sein.“
„Himmel, wenn das Grundstück schon verkauft wäre!“ rief der Wachmann und schlug eine Hand an die Stirn.
„Es ist aber nicht verkauft“, erwiderte Tamisha und stemmte die Hände in die Hüften. „Das hätte man längst in der Zeitung lesen können. Und wer kauft bitteschön so ein Anwesen? In der Größe, mit der Gestaltung und vor allem: dieser Geschichte.“
Der Wachmann musterte sie.
„Es ist schon ein paar Jahre her, dass du hier warst“, sagte er dann. “Was genau hast du hier vor?“
Die junge Frau schürzte die Lippen und ihre Augen suchten einen imaginären Punkt in den Wolken.
„Ich weiß es selbst nicht genau, Perc“, antwortete sie schließlich. “Ruhe, vielleicht endlich einen Abschluss. Ich trag die Sache jetzt schon ewig mit mir rum und irgendwie kann ich einfach nicht meinen Frieden finden.“
Der Wachmann nickte und wandte sich zum Gehen.
Sie folgte ihm in einigem Abstand.
„Eigentlich gehört das Anwesen mittlerweile einer Maklerfirma“, erklärte der Mann ihr über die Schulter hinweg. „Es ist einiges verändert worden, wundere dich also bitte nicht.“
„Aber das Haus steht noch?“ fragte Tamisha sofort.
„Ja, es steht noch. Natürlich ist es mittlerweile ausgeräumt.“
„Natürlich“, wiederholte die junge Frau und sah wieder zu Boden, während sie weiter gingen. Sie konnte jetzt nicht ihren Blick schweifen lassen. Es war alles so vertraut und so schmerzhaft.
Nachdem sie eine ganze Weile schweigend hintereinander gegangen waren, wurde aus der Wiese ein Weg. Große Steine wiesen Tamisha den Weg und in Gedanken sah sie die großen Eichen, die den Weg säumten, den Teich auf der linken Seite.
Das Haus befand sich zu ihrer rechten Hand.
Sie vergrub die Hände in den Taschen ihrer Jeans und versuchte ruhig zu atmen.
Aber ihr Herz schlug plötzlich so schnell, dass sie das Gefühl bekam, dass es ihr gleich aus der Brust hüpfen wollte.
Wie von selbst fanden ihre Beine den Weg die Veranda herauf, die drei Stufen waren so gut in ihrem Gedächtnis, dass sie spürte, wie ihr Magen sich verkrampfte.
Ihre Schritte verlangsamten sich und es wurde etwas kühler und dunkler.
Sie betraten die Vorhalle des Hauses.
Die Ledersohle von Percys Schuhen hallten auf dem Parkett wider und machten ein schleifendes Geräusch, als er sich umdrehte.
„Da wären wir“, sagte er und räusperte sich. “Wie lange willst du eigentlich bleiben?“
Tamisha ging an ihm vorbei und sah sich in der große Halle um.
Die Wände waren mit weißer Farbe wieder renoviert, der Holzboden neu aufpoliert. Die große Treppe auf ihrer rechten Seite, die in das obere Stockwerk führte, war neu lackiert.
An der Decke hingen noch die vertrauten Lüster.
Sie sah wieder zu dem Wachmann.
„Ich weiß nicht genau“, antwortete sie dann und war erschrocken darüber wie ihre helle Stimme an den hohen Wänden widerhallte. “Vielleicht ein paar Tage.“
„Ein paar Tage?“ wiederholte Percy erstaunt. “Was ist wenn dich hier irgendjemand findet oder das Haus besichtigt werden soll?“
Die junge Frau schnaubte durch die Nase und legte den Kopf schief.
„Das ist wirklich dein Ernst?“ wollte ihr Gegenüber wissen.
Sie sagte nichts darauf, aber das war ihm Antwort genug.
„Okay, dann wird’ ich den Anderen Bescheid geben, dass wir seltenen Besuch haben“, sagte er dann und griff nach seinem Walkie-Talkie.
„Warte!“ mit einer bestimmenden Geste legte sie dem Posten die Hand auf den Arm. „Sag’ bitte niemanden, dass ich es bin.“
„Was tut das zur Sache?“ Percy war verwirrt.
„Sag es einfach niemanden, okay?“ wiederholte Tamisha.
Wieder räusperte sich der Wachmann.
„Gut. Aber wo willst du schlafen?“
Sein Blick folgte ihrer Kopfbewegung, dann hob er resignierend die Arme.
„Tamisha, Mädchen. Du willst doch nicht allen Ernstes behaupten, dass du hier-“
Sie sah ihn eindringlich an und er schwieg.
„Ich habe einen Schlafsack dabei“, antwortete sie dann, um ihn etwas zu beschwichtigen.
Percy kratzte sich verlegen am Kopf.
„Tja also“, begann er und trat von einem Bein auf das andere. “Dann lass ich dich jetzt wohl besser allein. Ähm, es gibt keine Strom mehr hier drin und falls du essen brauchst oder sonst etwas benötigst, dann – meld dich einfach bei uns in der Wachstube, ja?“
Tamisha nickte und ein schüchternes Lächeln huschte über ihre Lippen.
„Ich danke dir, Perc.“
Percy, der alternierende Wachmann verließ das große Haus, aber seine Gedanken waren noch immer bei der jungen Frau.
Ruhe, Frieden, endliche einen Abschluss finden hatte sie gesagt.
Es war jetzt fast ein Jahr her, dass diese schlimme Nachricht die ganze Welt erfasst und wachgerüttelt hatte. Viele Menschen waren damals geschockt und fassungslos vor Radio und Fernsehen gesessen. Am Anfang wollte es einfach niemand glauben. Dann kam die Gewissheit und die Trauer, später Verzweiflung und Gerüchte.
Und jetzt, knapp einem Jahr nach dem Tod des Eigentümers drohte dem Anwesen ein Sturm, der alles wegzufegen bereit war.
Es war der Wind des Vergessens, der über Neverland Valley blies...