Von einem nichtprofessionellen Zeichner aus dem Mittelalter, dessen Versuche zur Darstellung eines menschlichen Kopfs im 90°-Profil so scheiterten wie auf S. 57v erkennbar ist, erwarte ich, dass die Gestaltung eines Tierkopfs im Profil sehr hohe Ansprüche an ihn stellen würde. Deshalb habe ich gezielt die Tierdarstellungen im Profil näher unter die Lupe genommen und die einzelnen Bilder miteinander verglichen.
Nun muss ich meine ursprüngliche Meinung, dass es sich nur um einen einzigen Zeichner gehandelt habe, revidieren!!!
(70v, 71r, 71f, 72r, als Pdf S. 129, 130, 131)
Im direkten Vergleich der Ziegendarstellungen lassen sich, viel deutlicher als im ersten Moment erwartet, Hinweise auf einen weiteren Zeichner erkennen.
(70v, 71r als Pdf S. 129, 130)
Der Zeichner der ersten Ziege war nicht nur in der Lage, die 90°-Drehung des Ziegenkopfes sicherer und mit mehr Details darzustellen, er hatte offensichtlich auch ein ausgeprägtes Wissen über die Anatomie (Rundungen, Gelenke) einer Ziege. Die Linien wurden sehr genau und sicher gezeichnet.
Mein Eindruck ist, dass sich die Gestaltung der weiteren Ziegen vermutlich an dem ersten Ziegenbild orientiert hat? Die erste Version zeigt so viel Tiefe und Sicherheit in der Linienführung, dass man von einem sehr geübten Zeichner ausgehen muss. Ich habe nicht unbedingt den Eindruck, dass weitere Bilder im Manuskript so viel Können und Tiefe zeigen?
Anmerkung:
Die "spitzen Haken" (oder sollen es doch nur Haare sein?) und die "runden Beutel", die bei den Ziegen über den Hufen zu erkennen sind, fallen bei dem Vergleich möglicherweise ein bisschen aus dem Rahmen, weil sie ganz evtl. auch absichtlich so gegensätzlich dargestellt worden sein könnten, um gezielt etwas zu symbolisieren?
Das linke Bild (73r, als Pdf: S.134) würde ich vielleicht noch dem Zeichner der ersten Ziege zuordnen? Unter der Koloration (die jemand anderes später aufgetragen hat) lassen sich meines Erachtens am Kopf die Konturen eines weit geöffnetem Mauls in einer sehr komplizierten Profilansicht erkennen. Auch die sichere Darstellung mit dem verdrehten Schwanz lässt vermuten, dass der Zeichner dieser Konturen Wissen über die Darstellung von Räumlichkeit besaß und dadurch in der Lage war, mehr Tiefe ins Bild zu bringen.
Das zweite Tierbild (72v, als Pdf: S.132) fällt auf, weil es einen (offensichtlich gescheiterten) Versuch darstellt, dem Tierkopf das gleiche Profil (90°) zu geben, wie den anderen Tierköpfen, die innerhalb der Kreise von der Seite dargestellt werden. Dieser Zeichner hatte immerhin noch erkennbare Probleme, die gewohnte Einheit von zwei Augen für die 90°-Profildarstellung aufzugeben.
Ich vermute hier den Zeichner, der auch die zweite Ziege (ab-)gezeichnet hat und hier auf eigene Faust die Darstellung des Kopfs im 90°-Profil ausprobiert. Es könnte tatsächlich auch noch ein weiterer Zeichner sein? Doch ich vermute, dass diese Darstellung einen zeichnerischen Lernschritt darstellen könnte, der nach dem Zeichnen (meiner Meinung nach auch dem Kopieren und evtl. auch Kolorieren) der anderen Tierzeichnungen zu erwarten wäre.
Diese Zeichnung stellt meines Erachtens eine Besonderheit innerhalb des Manuskripts dar. Bisher habe ich noch keine weitere Zeichnung im Manuskript entdecken können, die auf eine so weit zurückliegende zeichnerische Entwicklungsphase schließen lassen würde.
Der Zeichner wählte eine extrem simple Lösung, die er von früher kannte und ihm ermöglichte, die hohe Anzahl der der Gliedmaßen eines Tieres so darstellen zu können, wie sie nach seinem Wissen wirklich liegen und nicht, wie man sie in der Realität sehen würde.
Das ist eine Lösung, die (auch schon im Mittelalter) eher einer weit zurückliegenden zeichnerischen Entwicklungsphase entspricht.
Als sicherer Hinweis auf einen dritten (oder vierten) Zeichner, ist mir das persönlich aber etwas zu dünn.
Einen einmaligen Rückgriff auf eine zurückliegende Zeichenphase, mit der sich ein konkretes Problem lösen lässt (Erkennbarkeit der genauen Anzahl und Lage der Gliedmaßen), halte ich besonders wegen der damaligen Probleme zur räumlichen Darstellung oder einem möglichem Zeitdruck auch für durchaus möglich.
Dieser spontane Rückgriff könnte sich zudem ebenso durch eine schwierige Phase, eine Entwicklungsstörung oder auch durch eine mögliche Einordung ins Autismusspektrum erklären lassen?