„Wäre der Spuk mir nicht selbst begegnet und wäre ich nicht schonungslos als Beute diesem rasenden Ungetüm vorgeworfen worden, ich hätte der Erzählung anderer selbst nicht geglaubt. Von der Existenz dieser wilden Bestie habe ich mich mit allen wachen Sinnen und an hellichten Tagen überzeugen können. Dieser Schlag traf mich so unvermutet und so hart, wie es kaum ein anderes Unglück vermocht hätte. Meine Liebe zur Wahrheit veranlasst mich, unverfälschtes, öffentliches Zeugnis abzulegen. Getrieben von der Hoffnung, dass es eines Tages der Wissenschaft gelingen wird das Rätsel des Spuks zu lösen. Ein Rätsel, durch das schliesslich die gesamte Familie aus unserer geliebten Heimat vertrieben und vernichtet wurde.“Mit diesen dramatischen Worten beginnt einer der wohl bekanntesten Erlebnisberichte über einen Poltergeistfall, das Buch „Darstellung selbsterlebter mystischer Erscheinungen“ (Zürich: Hanke Verlag, 1863) von Advokat Melchior Joller, gewesenes Mitglied des schweizerischen Nationalrates.
Joller war im Kanton Nidwalden kein Unbekannter. Er eroberte 1857 an der Landsgemeinde als Vertreter der Liberalen den Nationalratssitz des Kantons Nidwalden, lehnt aber nach drei Jahren eine erneute Kandidatur ab. Im großen stattlichen Bauernhaus der Familie, der Spichermatt, umgeben von schroffen Bergflanken und direkt an der Landstrasse vom See bei Stansstad nach Stans gelegen, wurde Joller geboren, und dahin zurück zog er nach seinem Studium. Bauherrin des 1798 nach dem «Franzosensturm» erbauten mehrstöckigen Hauses war Jollers Grossmutter Veronika Gut, eine der ersten politisch aktiven Frauen in Nidwalden.
Das 200-jährige Spukhaus steht heute nicht mehr. Die Spichermatt wurde im Februar 2010 abgerissen, nachdem der Kanton das kulturhistorisch bedeutsame Haus in Plänen und Fotografien dokumentiert hatte. An der gleichen Stelle steht heute ein Einkaufszentrum.
Am 15. August 1862 beginnt im Haus von alt Nationalrat Melchior Joller in Stans zaghaft, was sich innert Tagen zu einer unfassbaren und bedrohlichen Serie von Erscheinungen ausweitet. Mehr als zwei Monate lang weiss kein Familienmitglied, wann, wo und in welcher Gestalt das Grauen in der Liegenschaft Spichermatt in Stans wieder auftauchen und wen es bedrohen wird. Es klöpfelt und poltert, einmal werden Türen und Fenster aufgerissen und wieder zugeschlagen. Ein anderes Mal stürzen Möbel um oder fliegen durchs Zimmer. Schemenhafte Gestalten erscheinen den Bewohnern, Armknochen schweben im Raum, und unsichtbare kalte Hände fassen sie an.
Nur sechs Tage nach dem Auftauchen der ersten Erscheinungen informiert Joller die Behörden. Eine Untersuchungskommission, vom Regierungsrat eingesetzt, nimmt ihre Arbeit auf. Die Familie verlässt das Haus, das ein paar Tage überwacht wird, doch hören die Erscheinungen mit dem Weggang auf. Damit wird die Befürchtung des 44-jährigen Joller, die Untersuchung führe ins Leere, zur Realität. Anhand neu entdeckter Dokumente kann der Historiker Lukas Vogel, der frühere Leiter des Amts für Kultur in Nidwalden, nachweisen, dass die Kommission nur nach Betrügereien durch Familienmitglieder fahndete und die Untersuchung einstellte, als sich diese Verdächtigungen nicht erhärten liessen.
Die Familie Joller kann ins Haus zurückkehren. Doch am dritten Tag nach der Rückkehr werden die Bewohner durch einen gewaltigen Schlag auf den Fussboden erschreckt. Die älteste Tochter erblickt am gleichen Tag eine weibliche Gestalt. Nun wiederholen sich die Spukgeschichten, sei es, dass Kleider in den Schränken durcheinandergewirbelt werden, sei es, dass sich Stühle von selbst verschieben oder Gemälde umgedreht werden. Noch 70 Jahre später wird im Dorf die Geschichte vom Pferdegeschirr erzählt, das eingeklemmt im Ofenrohr gefunden wurde.
Ein weiteres Beispiel aus Jollers Buch:
„22. September: Wir hatten gerade die Stube verlassen, als wir von dort ein Geräusch hörten. Ich sprang zur Türe zurück, die ich nie aus dem Auge verloren hatte. Und an derselben einen Augenblick lauschend, vernahm man ein Geräusch, als ob eine Gesellschaft von mehreren Personen in Socken herumtanzen würde. Rasch die Türe geöffnet, war es mausstill. Der schwere Tisch lag der Länge nach gegen die Türe, das Unterste zu oberst, ebenso die Stühle nebst dem Hocker vor dem Sofa. Wir trauten kaum unseren Sinnen. Es mochte seit unserer Entfernung aus der Stube erst eine Minute verstrichen sein.“Nun beginnt, was nicht mehr zu stoppen ist, nicht weitere Spukerscheinungen, sondern der Klatsch und das Gerede im kleinen Kanton und darüber hinaus. Die Angelegenheit ist Tagesgespräch, wird zum Gegenstand des Gespötts, das von verschiedenen Zeitungen verbreitet wird. Dazu kommen Verdächtigungen, Joller habe die Spukgeschichten erfunden, um das Haus abzuwerten und so bei einer Veräusserung in der Verwandtschaft halten zu können. Die «Neue Zürcher Zeitung» fragt sich, wie eine solche Geschichte zu einem der Aufklärung verpflichteten Liberalen passe, der doch sonst ein Mann von Bildung sei.
Auch die Erscheinungen gehen weiter. Geldgeklimper ist einmal zu hören. Ein anderes Mal stösst eines der Mädchen einen Schrei aus, weil es von eiskalten Fingerspitzen berührt wird. Ein Steinregen geht draussen nieder. Gut zwei Monate nach Beginn des Spuks, am 23. Oktober 1862, zieht die Familie deshalb fluchtartig und für immer aus der Spichermatt in Stans aus und bezieht in Zürich in einem Mietshaus in Aussersihl eine kleine Wohnung. Von da an verschwinden die Erscheinungen. Kein Besitzer und keine spätere Bewohnerin werden je wieder etwas Ähnliches in der Liegenschaft hören oder erleben.
In Zürich geht Joller keiner Erwerbsarbeit nach, zumindest ist davon in den Quellen nichts erhalten. Gelebt haben dürften er und seine Familie von den Erträgnissen aus Haus und Hof in Stans, den Zinsen der Mieter und Pachterträgen aus Wald und Land. Mehrmals hatte Joller wegen Betrugsvorwürfen vor Gericht zu erscheinen. Er, der sich politisch zum konservativ-romtreuen Anhänger wandelte, flüchtete ein zweites Mal, diesmal nach Rom, wo er 1865, einen grossen Schuldenberg hinterlassend, starb. Seine drei älteren Söhne starben früh als Söldner in Holländisch-Ostindien, seine Frau verarmte in Rom.
Quelle:
Neue Zürcher Zeitung, „Das Spukhaus von Stans“, 28. Dezember 2011:
http://www.nzz.ch/aktuell/schweiz/das-spukhaus-von-stans-1.13916490 Die Auszüge aus Jollers Bericht nach
http://www.das-spukhaus.de/main.html (Archiv-Version vom 29.05.2013) Das ist die Webseite zu dem Film „Das Spukhaus“, den der Grimme-Preisträger Volker Anding im Jahr 2003 (damals stand das „Spukhaus“ von Stans noch) im Auftrag des ZDF in Zusammenarbeit mit ARTE gedreht hat. Die Seite ist sehr zu empfehlen, da sie unter dem Menüpunkt „Das Spuk-Tagebuch“ auch Ausschnitte aus Jollers Bericht enthält.