Aus der Geschichte des Poltergeist-Phänomens (iii)
Die mittelalterlichen Berichte, von denen ich zwei Beispiele gegeben habe, sind im Gegensatz zu späteren Fallberichten meist sehr arm an Einzelheiten und meistens nur aus zweiter oder dritter Hand (Ausnahme ist etwa die Geschichte des Geistes des Guy de Torno, die als „De Spiritu Guidonis“ in ganz Europa zirkulierte, von der aber auch ein direkter Augenzeugenbericht aus dem Jahr 1324 vorliegt, nämlich der von Jean Goby, Prior des Dominikanerklosters von Alais (heute Alès) in Nordfrankreich, wo die Ereignisse stattfanden, die er sorgfältig untersucht hat. Eine andere Ausnahme von der Regel „detaillearm und aus zweiter Hand“ sind die Aufzeichnungen des Petrus von Dacien (†1288) über die vielfältigen „Heimsuchungen“, die die Selige Christina von Stommeln (1242-1312) zu erleiden hatte. Hier ist es aber sehr schwer, auseinander zu dröseln, was lediglich subjektives Erleben der Christina war und was objektive Vorkommnisse wie etwa herumfliegende Steine und Exkremente. (Wer mehr über Christina wissen will, sei auf eine deutschsprachige Publikation aus dem 19. Jahrhundert verwiesen, die auf die lateinischen Originalquellen des Petrus von Dacien zurückgreift, und die man auch als kostenloses PDF-Faximile nachlesen kann: Theodor Wollersheim, Das Leben der ekstatischen und stigmatischen Jungfrau Christina von Stommeln wie solches von dem Augenzeugen Petrus von Dacien und anderen beschrieben ist. Nach authentischen Quellen verfasst, Köln 1859
http://books.google.de/books?id=ee4NAAAAYAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=falseDie ersten wirklich ausführlichen Augenzeugenberichte über Poltergeist-Phänomene finden wir dann erst wieder im 17. Jahrhundert, aus dem einige klassische Fälle überliefert sind. Einen davon möchte ich jetzt vorstellen.
Der Augenzeugenbericht trägt in der Druckfassung den barocken Titel:
«Lithobolia,
oder Steine-werfender Teufel.
Ein Genauer und Wahrer Bericht (mittels Tagebucheintragungen) über die verschiedenen Taten teuflischer Geister oder zu Fleisch gewordener Teufel und Hexen: und die enormen Störungen und Verwunderungen die diese bei George Waltons Familie an einem Ort namens Great Island in der Provinz New Hampshire in Neu-England hervorriefen und die größtenteils darin bestanden, dass (wie von unsichtbarer Hand) Steine, Backsteine oder Ziegel in allen Größen zusammen mit anderen Gegenständen, wie Hämmer, Schlegel, Brechstangen, Spieße und anderen Gerätschaften, umhergeworfen wurden, und dies ein Vierteljahr lang
von R.C. Esq; der bei der selben Familie die ganze Zeit gewohnt hat und ein Augenzeuge dieser diabolischen Inventionen war.
Der Inhalt desselben ist den Einwohnern dieser Provinz wohlbekannt, ebenso Personen aus anderen Provinzen, und ist im Bezirksgericht Ihrer Majestät für diese Provinz aktenkundig.
London, gedruckt und zu haben bei E. Whitlook in der Nähe der Stationers Hall, 1698»
„Lithobolia“ (von griechisch „lithos“ = der Stein und „ballein“ = werfen) ist eigentlich der griechische Begriff für „Steinigung“ und andere Rituale, die mit dem Werfen von Steinen verbunden sind. Er wird hier vom Verfasser – Richard Chamberlain, Sekretär der Provinz New Hampshire, der dabei selbst zugegen war – recht passend verwendet, um einen Phänomenkomplex zu beschreiben, der sich vorwiegend (wenn auch nicht ausschließlich) auf das unerklärliche Herumfliegen von Steinen konzentriert.
Hier der gesamte Text im englischen Original online:
http://w3.salemstate.edu/~ebaker/chadweb/lithoweb.htm (Archiv-Version vom 21.05.2012)Weniger über den Poltergeistfall selbst, aber dafür sehr ausführlich über die Hintergründe der betroffenen Familie Walton und ihr historisches und soziales Umfeld informiert das Buch „The Devil of Great Island: Witchcraft and Conflict in Early New England“ (Palgrave Mcmillan, 2007) von Emerson W. Baker, Historiker am Salem State College.
Die geschilderten Ereignisse haben im Jahr 1682 stattgefunden, das erwähnte kurze Büchlein „Lithobolia“ erschien zwar erst 1698, scheint aber – wie bereits der Titel sagt – auf Tagebuchaufzeichnungen zu beruhen, wofür spricht, das für jedes genannte Datum der richtige Wochentag angegeben ist, was wohl nicht der Fall gewesen wäre, wenn der Verfasser 16 Jahre später nur aus der Erinnerung berichtet hätte.
Außerdem gibt es schon aus dem Jahr 1684 eine andere Überlieferung der Vorkommnisse, nämlich in Increase Mathers „Remarkable Providences: An Essay For the Recording of Illustrious Providences“ (Boston, 1684).