Commonsense schrieb:Im Regelfall sterben die Eltern weit vor ihren Kindern, noch dazu, wenn es der häufig auftretende Fall bereits in die Jahre gekommener Eltern ist.
Wenn die Mutter also mit 40 Jahren entscheidet, das schwer behinderte Kind auszutragen, muss sie davon ausgehen, dass sich nach ca. 30, vielleicht auch 40 Jahren jemand anders um diesen Menschen kümmern muss.
Wer soll das sein? Diese Frage stellt sich doch, oder nicht?
Ich kann nicht aus eigener Erfahrung sprechen, denn meine Kinder sind, Gott sei Dank, gesund. Aber ich kenne eine Familie jetzt ca. 25 Jahre lang recht gut, die genau mit diesen Problemen konfrontiert ist: Ein Ehepaar, das einen Sohn mit Down Syndrom hat. Der Sohn ist inzwischen weit über 40 Jahre alt, die Mutter ist vor zwei Jahren gestorben und der Vater ist inzwischen um die 70 und hat begonnen, Verfügungen für den Tag zu treffen, an dem er nicht mehr unter uns sein wird.
Das Gute: ich lebe in einem Land, in dem die Gesellschaft eine solche Familie unterstützt. Das bedeutet nicht, dass das Leben dieser Familie keine Einschränkungen gekannt hat. Freilich nicht. Vermutlich haben die Eltern als junge Menschen sich ihr Leben anders vorgestellt. Aber was ich seit 25 Jahren sehe, ist, dass diese Familie durchaus glücklich gelebt hat. Sie sind nicht vor Gram zerfressen durch die Gegend geschlichen.
Der "Junge" benimmt sich heute noch wie ein 5-Jähriger. Wenn die Familie sonntags die Kirche betritt, geht er zu allen Anwesenden, reicht ihnen die Hand, und sagt artig "Guten Morgen." Manchen auch zweimal, wenn er vergessen hat, in welcher Reihe er begonnen hat. Dem Priester hilft er den Altar vorzubereiten, er macht diese Arbeit mit einem Ernst und einer Gewissenhaftigkeit, die jeden Ministranten in den Schatten stellt. Vermutlich kann er das nach 20 Jahren im Schlaf. Er freut sich darüber, wie wichtig er genommen wird. Er hat durchaus Emotionen. Die Eltern freuen sich, dass man den Jungen akzeptiert und ihm diese Freiräume gibt. Nach dem Gottesdienst sammelt er die Gesangbücher ein und räumt auf.
In der Woche arbeitet er in einer Behindertenwerkstatt. Ein Behindertentransport bringt ihn dorthin und wieder nach Hause.
Die Eltern, eine typische Mittelklassefamilie, versuchen ein so normales Leben wie möglich zu leben. Sie fahren in den Urlaub, sie haben Bekannte usw.
Finanziell unterstützt die Gesellschaft ihre besonderen Aufwendungen durch eine Behindertenrente. Diese wird bis an das Lebensende des Kindes bezahlt werden, daher brauchen die Eltern sich keine Sorgen um die finanzielle Zukunft zu machen.
Seit die Mutter tot ist, hat sich der Vater, inzwischen Pensionist, mit der Aufgabe arrangiert, nun allein für den Jungen zu sorgen. Er hat das auch in den Griff bekommen.
Nun hat er Vorbereitungen getroffen für den Tag, an dem er nicht mehr hier sein wird. Wieder unterstützt die Gesellschaft das: der Junge ist heute bereits in einer Behinderteneinrichtung registriert, in der er leben wird, sobald er allein stehen wird. Der Platz ist garantiert, die Kosten übernimmt die Gesellschaft.
Wenn man die beiden, oder früher die drei, gesehen hat, kommt man nicht auf die Idee, dass sich die Eltern einmal gewünscht haben könnten, ihr Sohn wäre nie geboren worden. Möglich ist es freilich, aber nicht zwangsläufig. Was ich aber oft gesehen habe ist, wie die Eltern sich gefreut haben, auch und gerade über ihr Kind. Wie jedes Kind hat auch dieser Junge in seinen Eltern lustige, freudige, schöne Emotionen hervorgerufen. Dieses Kind ist viel länger "Kind" geblieben als "normale Kinder." Es hat seine Eltern nie verlassen, vernachlässigt, bewusst verärgert, misshandelt usw usw. Es ist immer da gewesen, hat Liebe empfangen und auch Liebe gegeben.
Genauso ist sein Verhältnis zu seiner Umwelt: Ja, der Junge "kostet" die Gesellschaft finanziell. Aber er hat diese Gesellschaft nie absichtlich geschädigt, nie verachtet, nie missachtet.
Und hier erinnere ich mich an eine Szene aus einem Buch von Morris West, der genau das einmal beschrieben hat und mich seit 30 Jahren damit beeindruckt hat: Er beschreibt eine fiktive Szene, in welcher Jesus Christus in unsere heutige Welt zurückkehrt und in einer Pflegeeinrichtung für Down Syndrom Kinder mit der Frage konfrontiert wird, was er "dagegen" nun tun wolle. Er antwortet, auf ein Mädel deutend:
‘I know what you are thinking. You need a sign. What better one could I give but to make this little one whole and new? I could do it, but I will not.
I am the Lord and not a conjurer. I gave this little one a gift I denied to all of you: eternal innocence.
To you she looks imperfect — but to me she is flawless, like the bud that dies unopened or the fledgling that falls from the nest to be devoured by ants. She will never offend me, as all of you have done. She will never pervert or destroy the work of my Father’s hands. She does not know what evil is.
She is necessary to you. She will evoke the kindness that will keep you human. Her infirmity will prompt you to gratitude for your own good fortune … More! She will remind you every day that I am who I am, that my ways are not yours, and that the smallest dust mite whirled in the darkest spaces does not fall out of my hand …
This little one is my sign to you. Treasure her!’
Morris West, The Clowns of God (1981)
Ich glaube, die Familie, die ich kenne, hat nie bereut, sich dieser Aufgabe gestellt zu haben. Ich achte das und bewundere das und hoffe, das wir auch in Zukunft in einer Gesellschaft leben, die ihren Teil dazu beiträgt, dass solche Familien "es schaffen" können.