@corpulsAuch ich war seinerzeit empört über das juristische Nachspiel für die geistesgegenwärtig und verantwortungsvoll handelnden Polizeibeamten. Sie hätten den Jungen gerettet, wenn der Mörder es nicht schon im voraus vereitelt hätte. Für mich sind es Helden, und selbst w e n n sie formal gegen ein Gesetz verstoßen hätten, hätte jeder, der Kinder hat, sie gerne freiwillig hinterher für alles entschädigt. Der Vorgesetzte hätte sie, wenigstens heimlich, belobigen müssen und - anschließend für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen.
In den juristischen Argumentationen stecken Denkfehler:
Das Grundgesetz ist ein positives Gesetz. Das heißt: Es deckt die Wirklichkeit nicht vollkommen ab.
Das moralische Handeln steht darum über dem Gesetz. Der übergesetzliche Notstand deckt darum
vieles abweichende Verhalten ab.
Moralisch ist der Bürger sowieso verpflichtet, nach seinem Gewissen zu handeln, und wenn er dann mit dem geschriebenen Gesetz in Kollision gerät, muss er eben die daraus folgenden Nachteile in Kauf nehmen.
Eine sich auf Wortlaute versteifende Argumentation führt u. U. in absurdes Dickicht, wie man am vorliegenden Fall sieht, wo das gesunde Empfinden die Hände überm Kopf zusammenschlägt.
1. These: Gäfgen hatte seinen Anspruch auf Menschenwürde v e r w i r k t . Er hatte dieses Gut gerade durch seine maximale Missachtung als neues Denksystem außer Kraft gesetzt.
Wir als Staat dürfen darauf nicht eingehen? O.K., dann nächstes Argument:
2. Der Polizist hat nicht gefoltert. Er hat die Folter nur angedroht. Er hat dem Festgenommenen die Unwahrheit gesagt. Dies war moralisch nicht zu beanstanden. Jeder hat das Recht, die Wahrheit vorzuenthalten, wenn das Gegenüber keinen Anspruch auf die Information hat. (Beispiel: Frage nach Schwangerschaft beim Bewerbungsgespräch). Formell, aber nicht sittlich eine Lüge!
3. Ja, aber die Würde sei doch psychisch verletzt. Der arme Getäuschte musste doch meinen, der Polizist verstoße gegen das Grundgesetz mit seiner geplanten Folterei. Da bräche ja sein Weltbild zusammen. Ach sooooo! Ja, richtig!... (Und er war ja auch Jurastudent usw, oder wie?)
4. Die Würde des Verhörten k o n n t e nicht verletzt werden. Weil sie gar nicht da war.
Wird meine Würde verletzt, wenn mich ein Esel tritt? Oder wenn mich eine Mücke sticht? Nein. Egal, wie ich zugerichtet werde, sie wird nicht verletzt. Weil das Tier mich nicht als Person wahrnimmt.
Wenn denkende Personen jemand anderen unabsichtlich verletzen, verstoßen sie auch nicht gegen dessen Würde. Mit den anschließenden Entschuldigungsworten versichern sie ihm, dass sie ihn nicht persönlich gemeint haben und beweisen ihre Unschuld.
Es gibt Notsituationen, in denen man die Personwürde ignorieren muss.
Niemand wird es einem Rettungssanitäter übelnehmen, wenn er eine die Straße blockierende Person beiseite schubst, um Sekunden für die Durchfahrt zu gewinnen: ob diese Person nun nur unaufmerksam oder dement ist. Sie wird genauso behandelt, wie wenn sie eine Kuh wäre oder bloß ein Gegenstand. (Natürlich möglichst schonend. Aber auch da gibt es Prioritäten. - Späterer Schadensersatz steht auf einem anderen Blatt. Aber er hat mit Würde überhaupt nichts zu tun.
Ebenso wie z. B. bei medizinischen Notfällen die Bekleidung ohne Schaden entfernt werden darf.)
Im hier behandelten Fall war die Rettung des Jungen das einzige Ziel der Beamten in der betr. Situation. Der Informationsträger, dessen sie habhaft geworden waren, war zu diesem Zweck als Störfaktor auszuschalten bzw als Mittel der Findung tauglich zu machen. Da die Ermittler dessen Interessen nicht gleichzeitig mit denen des Kindes gerecht werden konnten, durften, ja mussten sie jene vollkommen außer Acht lassen. Insofern sie folglich die "Würde" des Täters gar nicht im Blick hatten, konnten sie sie auch nicht verletzen. Wäre der einzige mögliche Informant
z. B. - was sag ich - ein Schlafkranker gewesen, den man immer nur mit Armzwicken zum Sprechen bringen konnte, hätten sie den eben in den Arm zwicken müssen und dürfen. (Späteres Schmerzensgeld siehe oben!)
5. Das In-die-Enge-Treiben des Täters war in seinem eigenen Interesse. Hätten sie damit den Tod des Kindes verhindert, wären die Folgen auch für ihn ungleich milder gewesen, und sein Gewissen wäre nicht ein Leben lang belastet. Ja, wenn die Haftstrafe zum Erfolg und zur Einsicht führte, würde G. sich selbst irgendwann bei den Polizisten für ihre Umsicht bedanken.
Ich wollte hiermit zeigen, dass es keine Pflichten-Dilemmata gibt. Es gibt immer eine höherwertige, und wenn die Erfüllung beider sich ausschließt, entfällt die andere restlos und ohne jede Haftung - wie bei einer Mehrheitswahl die unterlegenen Stimmen ersatzlos unter den Tisch fallen.