Optimist schrieb:Diejenigen, welche zu tun haben, genug Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen, müssen um die 40 Stunden arbeiten, oft sogar noch unbezahlte Überstunden (zumindest im Osten). Wenn es Frauen sind, folgt nach dem Arbeitstag noch Hausarbeit und Familie.
Wo sollen diese Zeit, Kraft und Muse hernehmen, sich politisch/gesellschaftlich einzubringen?
@OptimistIm wesentlichen ist das richtig. Wir haben nur begrenzt Zeit und eine Vollzeitbeschäftigung schränkt uns erheblich ein in unseren Möglichkeiten. Dazu noch Familie, Haushalt und von mir aus noch die Kirche und schon wird selbst ein eigenständiges Hobby schwer praktizierbar. (Man sollte hier einwenden, dass dieses klassische Modell der Lebensführung nicht mehr so selbstverständlich ist, wie das Amen in der Kirche. Teilzeit- Gleitzeitmodele, sowie Home-office, selbstständige Tätigkeiten mit schwankenden Arbeitszeiten usw.. Da tut sich einiges auch zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir sind uns einig, dass Doppelverdiener eine erheblichen Doppelbelastung ausgesetzt sind und das es ihnen und vielen anderen kaum zuzumuten ist, sich wöchentlich 5 Stunden für Politik einzusetzen.)
Doch was heißt das im Resultat: Kann man den Gedanken sogar noch weiterführen und ihnen attestieren, nicht über die notwendige Zeit zu verfügen eine fundierte Wahlentscheidung zu treffen? (Meine Erfahrungen in der Tagespolitik auf allen Ebenen spiricht dafür, was aber neben Zeitmangel, genauso auch auf "Desinteresse" und Faulheit beruhen. Es ist nicht unüblich erst vor der Urne die Entscheidung zu fällen oder einfach den zu nehmen, der den besten Eindruck auf Großplakaten macht.) Damit würden wir die Grundlage der Demokratie selbst infrage stellen. Ich denk wir sollten da vorsichtig bleiben. Wenn nur jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten sich mal umhört, vielleicht mal eine E-Mail an einen lokalen Kandidaten stellt in einer persönlich wichtigen Frage, würde mir das schon genügen. Auch Politik ist nicht so dramatisch zeitintensiv, wie sich das mancher vorstellt. Ab und an Stammtischgespräche, mal ein Wochenende mit einer Bildungsreise, thematische Treffen zur Diskussion usw. Nur der Wahlkampf ist dramatisch anspruchsvoller, weil zumindest in meinen Ecken Deutschlands das willige Personal fehlt. Stundenlanges Flyer-Verteilen, Demonstrieren, Wahlkampfstände betreuen und selbst Trivialitäten wie Popcorn verteilen. Das frisst Zeit. Wenn nun jeder, der kann sich da einbringen würde, wäre das ein Witz. Jeder müsste nur einen winzigen Bruchteil davon leisten.
Optimist schrieb:Diejenigen, welche es nicht nötig haben so viel Zeit und Kraft in ihr Auskommen zu investieren, leben mehr oder weniger unbeschwert und haben somit nichts weiter am politischen Ist-Zustand auszusetzen oder machen sich auch gar keine Gedanken groß darüber. Es besteht ja auch kein Leidensdruck.
Also bleiben nur "ein paar Hanseln", welche quasi wie gegen Windmühlen kämpfen müssten
Ein großzügiges Gehalt ist noch lange kein Grund keinen Bedarf mehr zu haben. Im Gegenteil: Ein jeder erfüllter Wunsch zeugt augenblicklich Kinder. Niemand ist je umfassend zufrieden. Höchstens wenn er seinen Bedarf deckelt und sich mit dem Ist-Zustand zufrieden gibt. Zumindest bei denen, die "es nicht nötig haben" wird dieses Maß an Selbstkontrolle nicht zu finden sein
Diese Menschen, die "es nicht nötig haben" sind deutlich in der Unterzahl. Die große Mehrheit arbeitet entweder nicht, lebt von zu wenig staatlicher Unterstützung (1. Gruppe) oder arbeitet zu viel für zu wenig Geld (an Mediziner denken, die in Kliniken auch gerne mal 60 Stunden arbeiten, an Anwälte denken, die für ihr Spitzengehalt auch regelmäßig Tag- und Nacht arbeiten, nicht nur meckern über die Gutverdiener, sondern deren Realstundenlohn betrachten bitte -- analog auch für Lehrer, die nun deutlich mehr arbeiten als nur die Unterrichtsstunden - Von Putzfrauen und dem Niedriglohnsektor will ich nicht anfangen. Ich hoffe hiermit ein halbwegs ausgewogenes Bild der Gruppe 2 zu bieten.)
Ich sehe darunter niemanden, der nicht Problemen unterliegt, die sein tägliches Leben dominieren. Maximal einige Beamte in ruhigen Arbeitsverhältnissten könnte man da ausklammern. Kollege von mir sitzt im Finanzamt und lebt den pragmatischen Nihilismus. Das ist aber weder Regel noch Norm. Das Potential für politische Schaffenskraft ist da, auch wenn es bei vielen nicht über das Meckern hinausgeht. Dann ist dann mal schnell "De olle Mergel" Schuld oder "de Asylant von über die Straße". Der Staat denkt ja nicht genug an uns und gibt alles für andere aus. Ich hoffe, die Ironie ist verständlich geworden.
Optimist schrieb:Und wozu werden denn Politiker/Parteien gewählt? Damit dann am Ende die Bürger sich ins Zeug legen und die Politiker am Ende vielleicht gar nichts mehr groß zu tun hätten?
Sie bekommen von der Bevölkerung quasi den Auftrag, möglichst optimale Entscheidunen zu treffen, weil dies eben die Bevölkerung nicht selbst tun kann (wie zB in der Schweiz über Volksentscheide). Darauf vertrauen die Leute, vor allem dass Wahlversprechen eingehalten
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die letzten Male, als wir blind auf Parteiversprechungen gehört haben, funktionierten ja auch so gut. (NSDAP mit ihrem Lohn und Brot brachten Krieg und Not; SED wollte die Gleichheit aller im Wohlstand schaffen und erreichte pratisch die Gleichheit aller in Armut und Unfreiheit; und aktuell die SPD wollte mehr soziale Gerechtigkeit und schaffte Erbschaftssteuer, Körperschaftssteuer und Vermögenssteuer (durch Hinnehmen der verfassungsrechtlichen Nichtigkeit) quasi ab. Die Steuersenkungen der FDP seiner Zeit erwähne ich nicht.
Parteien sind nur der "Ort der politischen Meinungsbildung" (Art. 21 GG) Wenn niemand die Meinungsbildung betreibt außer einem verschwinden geringem Bruchteil der Bevölkerung und praktisch nur Akademikern (spreche hier aus Erfahrung) dann wird das nichts mit der Repräsentation. Ich möchte hier an andere Zeiten erinnern, als die SPD noch echt für Arbeitnehmer und "die kleinen Leute" eingetreten ist mit dem Godesberger Programm. Dagegen ist unser heutige Auftreten ein echter Witz. (Ja ich bin SPDler, soll man es mir verzeihen.)
Wenn die Menschen urealistischen Wahlversprechen folgen, dann sollte man sich nicht wundern, wenn diese gebrochen werden. Weder CDU noch SPD konnten in den letzten Perioden ihre Wünsche umsetzen, weil der jeweils andere Koalitionspartner ihn aufgehalten hat. Es muss eine Regierung durch eine Partei geben zumindest für eine Periode, sonst kastrieren wir jedes Wahlprogramm unterm Strich. Die AfD macht das heute genauso. Sollten sie jemals Regierungsverantwortung tragen, werden sie alle enttäuschen. (Spätestens das BVerfG kassiert ihre grundlegenden Forderungen wieder ein.) Was machen wir dann? Eine Alternative für die Alternative für Deutschland? Nein! Jetzige Parteien formen, neu prägen, pragmatische und kompetente Mitglieder der Gemeinschaft nominieren zur Wahl. Echter Wahlkampf ohne hohle Versprechen. Das hatten wir seit langer Zeit nicht mehr. (Im Übrigen kann jeder den Wahlkampf auf sich nehmen, denn a) sind die Kosten von der Partei übernommen und b) muss der Arbeitnehmer für 2 Monate von der Arbeit freistellen vor der Wahl und bei Wahlsieg ist ein Einkommen, sowie ein Büro gesichert.)
Optimist schrieb:bist du sicher dass die Vollzeit arbeiten?
Im Bundestag zB. sind nicht immer alle Plätze besetzt und Manche machen nicht gerade den Eindruck, als verfolgen sie recht aufmerksam die Reden...
Klassisches Missverständnis. Die meisten Politiker sitzen in Büros im Bundestag. Die gesamten Reden werden live auf Bildschirme in diesen Übertragen. Auf allen Ebenen sind auch Räume, in denen man die Debatten verfolgen kann. Es genügt, wenn die Redner und die Fraktionsvorsitzenden im Plenarsaal anwesend sind, sowie das Präsidium. Es ist wirklich nu ein Fehlschluss, dem da viele erliegen, die nur mal auf Phönix reinschalten (aber danke, dass du wenigstens das getan hast. Großes Plus)
Zu ihren Aufgaben im Bundestag müssen sie sehr viel reisen, was Zeit kostet, die sie nicht für Familie und Freizeit nutzen könnenn (aus ganz Deutschland im Fall der Fälle). Außerdem müssen sie in ihrem Wahlkreis aktiv sein und in der SPD vor Ort aktiv bleiben. Das sind etliche Veranstaltungen und ein großes Pensum. Dazu kommen innerparteiliche und parlamentarische Arbeitskreise, die inhaltich arbeiten und natürlich Parteikongresse, Vollversamlungen, Parteitage usw.. Ja, Vollzeitarbeit muss man dem Durchschnittsparlamentarier unterstellen.
Optimist schrieb:GEGEN den Vertretenen? Ja, genau das ist es, was Politverdrossenheit erzeugt, dass man so manches mal ein Regieren gegen die Interessen der BREITEN Bevölkerung empfindet und stattdessen mehr FÜR eine Minderheit (zB. große Wirtschaftsunternehmen
Das GEGEN bezieht sich auf die Haftung. Wer einem anderen die Vollmacht zur Vertretung ausspricht, der muss ihn kontrollieren, was er damit anstellt, denn im Zweifel ist man selbst derjenige, der diesen "Kunstbanausen" in diese Position gehoben hat.
Im übrigen besteht unser Staat aus Minderheiten. Jeder Einzelne darf sich mal fragen, in welcher Schnittmenge aus Minderheiten er auftaucht. (bspw. Frau/Mann, hetero/sonstig, Arbeitnehmer/Arbeitgeber/Arbeitssuchend/Ausbildung, Religiös/Nichtreligiös, Drogenkonsument/Verzichtler, Veganer, Rentner, Einwanderer und was nicht alles.) Und ich bitte zu bedenken, dass a) alle Parteien durch großzügigen Spenden von Industrieunternehmen finanziert werden (die Beiträge der wenigen Mitglieder reicht schon lange nicht mehr. Bitte mal die öffentlichen Spenderlisten von CDU und SPD vergleichen. Da fallen merkwürdig viele Gemeinsamkeiten auf.)
und b) auch Gewerkschaften, Umweltschutz, Frauen und Familiverbände und viele mehr lobbyistisch tätig werden.
Selbst ich habe mir schon Minister zur Brust genommen und mal öffentliche Gespräche und interne Papiere zur Beeinflussung genutzt. Lobbyismus ist ein legitimes Mittel, nennt man vielleicht lieber aktive Gestaltung der Politik. Was so ein Begriff alles ausmacht?
Wenn da kompetente und vertrauenswürdige Politiker eingesetzt sind, dann ist die Beteiligung von verschiedenen Interessen seinem Urteilsvermögen unterworfen und er trifft trotz Lobbyismus oder gerade wegen diesem richtige Entscheidungen. Das dieser Idealfall nicht immer gegeben ist, ist klar. Das Warum habe ich aufgeführt (siehe oben)
Danke für den Input
Grüße,
Drogan