Verfall der deutschen Sprache?!
16.10.2020 um 12:49nairobi schrieb:Das hätte ich jetzt ohne t geschrieben.Oh ... sorry :-))). Nobody's perfect - um beim Thema zu bleiben.
abberline schrieb: Das ständige daheim hocken kann ein Problem sein, gerade für Stadtkinder. Ich komm vom Dorf und hab viel im Wald gespielt und dazu noch C64 oder Atari gezockt, verbotene Horrorfilme geguckt usw. Die Mischung macht es. Nur scheint mir, dass viele gar nicht mehr vor die Tür wollen.Da hat sich viel geändert ... Ich komme auch vom Dorf. Wir waren früher sehr viel im Wald oder auf den Bauernhöfen von Freunden. Direkt nach das Hausaufgaben ging es raus - bis der Angelus klingelte.
2020: Die meisten Höfe hat das Hofsterben dahingerafft. Meine eigenen Kinder sind deutlich weniger draußen. Es gab mal eine kurze Phase, als sie im Wald spielten, seit sie für den Spielplatz zu alt sind, gehen sie abends mal Fußball spielen - verbringen aber sehr viel Zeit mehr drinnen als wir früher. Auch ihre Freunde sind eher im Haus. Meine Jungs waren auch beide im Fußballverein, dieser ist aber sehr leistungsorientiert - und sie verloren schnell die Lust. Das ist bei Vereinsport ja oft so.
Allerdings muss man aber auch sagen, dass z.B. mein mittleres Kind im G8 dreimal Mittagsschule hat und damit dreimal erst gegen 16.30 nach Hause kommt. Er hat das Haus morgens um 6.45 verlassen und möchte dann -verständlicherweise- nirgends mehr hin. Oft hat er noch viele Hausaufgaben. Wenn nicht, trifft er sich noch auf eine Stunde mit einem Freund. Einmal die Woche geht er noch in die Klavierstunde. Damit ist er komplett ausgelastet. Gestern Abend saß er wirklich bis nach 21 Uhr an den Aufgaben und lernte, weil heute zwei Vokabeltests anstanden und nächsten Montag auch noch Mathe schreibt - das Wochenende wird dann für Mathe "draufgehen".
SIRiUS3lPi schrieb: Ist das denn nicht auch für eine Lehrkraft unbefriedigend, so zu arbeiten? Ich verstehe zwar, dass es in der Gruppe offenbar gar nicht anders zu handeln ist, aber wenn dieser Trend so weitergeht, ist es doch ein absoluter Rückschritt und das in einem Hauptfach oder nicht?Du musst ständig das Niveau nach unten anpassen. Das ist schon frustrierend. Es ist aber nur eine Facette davon, was den Beruf zunehmend schwieriger macht.
Fängt wohl schon im Kindergarten an ... Die Erzieher sind dort auch mit anderen Dingen beschäftigt (Sauberkeitserziehung, etc.). Das gehörte natürlich immer schon zu ihren Aufgaben, aber es ist wohl so, dass bei einzelnen Kindern viele häusliche Defizite wieder ausgeglichen werden müssen - das ist bei uns in der Schule auch noch so.
Dieses veränderte Arbeitsfeld zieht sich dann durch. Ich habe ca. 1/3 Schüler, deren Eltern ich nur vom Elternabend kenne, die gute Noten schreiben, Hausaufgaben machen, differenziert unterrichtet werden, weil sie sehr leistungsstark oder zumindest leistungswillig sind. Bei ca. 1/3 meiner Schüler kenne ich die Eltern nicht, weil sie nie einen Elternabend besuchen, die Hausaufgaben sind ein großes Problemfeld, im lockdown wurde kein einziger Arbeitsauftrag bearbeitet, man nahm nicht an Videokonferenzen teil, etc und man erreichte die Eltern nicht. Teilweise stimmten weder die in der Schule hinterlegte Adresse noch die Telefonnummer. Es ist oft schwer, da einen gemeinsamen Nenner zu finden.
Ein Kollege hat vor der Matheprüfung noch extra Mathestunden angeboten (freiwillig), da kamen zehn Schüler, die, die ohnehin zum "oberen Drittel" zählen. Bildung wird oft nicht als Wert verstanden. Die Eltern, die sich z.B. auch öffentlich im lockdown im Internet darüber ausließen, dass das ein Verbrechen an den Kindern sei, und lamentierten, wie ungerecht das alles sei (eine Mutter fiel da besonders auf) schickten interessanterweise die Kinder dann nicht in diese Zusatzstunden, bzw. die Schüler kamen nicht.
Wir haben auch immer wieder Eltern, die versuchen, ihre individuellen Bedürfnisse durchzusetzen bzw. einfach auf Konfrontationskurs gehen. Beispiel bei meinen Kindern: lockdown. Einer der Hauptfachlehrer hat sofort einen Raum bei Skype eingerichtet und begann direkt am Tag nach der Schulschließung, über Skype zu unterrichten. Da gab es tatsächlich ein Elternpaar, das sofort Einspruch eingelegt hat - wegen Datenschutzbedenken. Auch der Hinweis auf den Kosten-Nutzenfaktor, dass das "Kind" (fast 18) (das übrigens auf allen gängigen social media Plattoformen fleißig postet) sich auch anonym einloggen könnte ... keine Chance. Als Kompromiss einigte man sich auf eine andere Plattform, die regelmäßig abstürzte und einfach nicht stabil lief. Das beobachten wir ziemlich oft. Eltern eröffnen "Nebenschauplätze" - die unheimlich Zeit stehlen (und Energie) und überhaupt nicht zielführend sind.
Ich finde es persönlich schade, da ich auch gerne an meine eigene Kindheit zurückdenke, wo wir viel draußen gespielt haben und es war toll. Heute ist es in der Schule wirklich so, dass man viel individueller auf das einzelne Kind eingeht - das ist natürlich kein Fehler. Aber es bindet viel Arbeits- und Unterrichtszeit. Insgesamt sinkt das Leistungsniveau, auch, weil du viel weniger Zeit hast, zu unterrichten und immer weniger voraussetzen kannst (Hausaufgaben, Materialien, etc.) . Du hast auch viel mehr verhaltensauffällige Schüler, mit denen du dich oft zeitraubend auseinandersetzen musst. Das geht zusätzlich noch von der Unterrichtszeit ab. Um mal wieder die Kurve zum Thema zu finden: Es ist wohl tatsächlich so, dass man in vielen Haushalten nicht mal mehr Bücher findet.
Die Schüler selbst merken das oft gar nicht ... und sind z.B. total erstaunt, wenn sie ein Praktikum machen, dass sie dann gesagt bekommen, dass ihre Arbeitsleistung nicht für einen Lehrvertrag reicht. Bei einer Freundin von mir (arbeitet in der Gastro) hat ein Praktikant nach wenigen Tagen ein Praktikum abgebrochen, weil er in der Großküche überwiegend bei Salat und Dessert mithelfen musste und er den Sinn im Salat putzen nicht erkennen konnte.
SIRiUS3lPi schrieb: Mein Sohn ist 4.Klasse, Grundschule, da steht demnächst ein Übertritt an... Ich kann froh sein, dass er gern liest, aber was (saubere) Schrift angeht oder Texte selbst verfassen, finde ich es mit Hinblick auf die weiterführende Schule bedenklich.Bei meinen Kindern war es in der Grundschule so, dass wir daheim immer viel "nacharbeiten" mussten. Das Niveau der Klassenarbeiten war ziemlich hoch, der Unterricht "plätscherte" oft vor sich hin. Die Klasse war aber auch riesig (fast 30 Kinder).
Du musst heute als Schule sehr viel "breiter" arbeiten - neben dem normalen Unterricht läuft bei uns Busschulung, Verkehrserziehung, Drogenprävention, Sozialtraining, Berufsorientierung, Museumsbesuche, Theaterbesuche, Klassenfahrten, Beratungsgespräche, .... Und die "Events".
Ein anderes Thema sind Vertretungen: Man hat keine Lehrerstunden und möchte nicht, dass viel ausfällt. Daher ist es nun an vielen Schulen üblich, dass du in einer Klasse unterrichtest und parallel für die Klasse nebenan verantwortlich bist. In der Realität rennst du dann zwischen zwei Klassenzimmern hin- und her und dein eigener Unterricht leidet. Hauptsache, am Ende des Tages stimmt die Statistik.
Man hat oft das Gefühl, dass der Unterricht gar kein "Kerngeschäft" mehr ist. Tatsächlich suchen viele Eltern (und Kinder) die Schule auch nach stattfindenden "Events" aus - wir haben ein Gymnasium im Kreis, das vor der Oberstufe eine mehrwöchige Exkursion in die USA anbietet - das ist der absolute Renner, die Unterrichtsqualität an sich (die nicht besser und schlechter ist als an vergleichbaren Schulen) spielt bei der Schulwahl dann keine oder eine untergeordnete Rolle. Man nimmt z.B. auch in Kauf, dass die Kinder dafür acht Schuljahre lang täglich 15 Minuten eine längere Fahrzeit haben. Hauptsache, sie knipsen ein Selfie vorm Rockefeller Center.
SIRiUS3lPi schrieb: Beim Großen hat der Deutschlehrer vor 8 J schon beim Elterngespräch durchblicken lassen, dass sie mit einem sehr niedrigen Stand in Deutsch in der 5. ankommen und sie dort so vieles aufholen müssen,was oft schier nicht drin ist. Vermutlich wird dann auch an den weiterführenden Schulen Abstriche gemacht, quasi dem Durchschnittsniveau angepasst?Bei uns (B-W) wird in der 5ten nochmals sehr viel wiederholt, um alle Kinder auf den gleichen Stand zu bringen. Man schreibt gleich zu Beginn des Schuljahres Leistungsfeststellungen, die systematisch ausgewertet werden und versucht dann gezielt, Lücken zu schließen. Es gibt es auch supergemachte Arbeitshefte, wo du daheim aufholen kannst. Bei einem meiner Kinder erkrankte der Klassenlehrer in der 4. Klasse schwer und über Monate wurde der Unterricht nur sehr leidlich vertreten. Wir haben dann in den Hauptfächern selbst daheim noch nachgearbeitet, damit der Übertritt gut klappt.
Das ist so ein ganz "heimlicher" Markt, wo sich auch die Schulbuchverlage gut etwas dazu verdienen - für jedes Fremdsprachenbuch gibt es Klassenarbeitstrainer und zusätzliche Grammikhefte, wo man dem eigenen Kind einen persönlichen Vorteil verschaffen kann, wenn man sie anschafft. Das vergrößert die Kluft dann nochmals.